piwik no script img

Buchstaben pflastern seinen Weg

Dass der Schriftsteller Axel Brauns Autist ist, bemerkt bei seiner Lesung in Köln kein Zuhörer. Abgesehen von einigen wenigen Eigenarten der Artikulation macht er keine Fehler. Mit Sprache geht er um wie ein Außerirdischer mit immensem Wortschatz

Von CLAUDIA LEHNEN

Der Mann hinter dem Lehrerpult macht alles richtig. Seinen schweren Körper hat er auf die Unterarme gestützt. Von Zeit zu Zeit hebt sich sein Blick, wandert über die zahlreichen Menschenköpfe. Er spricht flüssig, an den spannenden Stellen zügelt er seine dahin galoppierende Rede. Er lächelt, er gestikuliert. Manchmal stiehlt seine Zunge dem „s“ jegliche Schärfe, ehe es verwaschen aus seinem Mund schlüpft. Wann immer ein „n“ oder ein „m“ seine Lippen passiert, klingt es, als wären seine Schleimhäute angeschwollen.

Sieht man ab von dieser Eigenart der Artikulation, macht Axel Brauns keine Fehler. Dass der 41 Jahre alte Mann, der an diesem Abend im Freien Bildungswerk Rheinland zu Köln aus seinem Debütroman „Buntschatten und Fledermäuse. Leben in einer anderen Welt“ liest, Autist ist, bemerken nur Menschen, „die sehr nah an mich heran kommen“.

Wenn Brauns seinem Publikum in die Augen blickt, fixiert er einen Punkt an der Nasenwurzel seiner Zuhörer. Er hat das aus einem Rhetorikhandbuch gelernt. Ehe er dies vor etwa fünf Jahren zur Hand nahm, war Blickkontakt für ihn eine komplizierte Sportart, die er nie zu erlernen befürchtete. „Axel, das macht man dezenter“, hatte seine Mutter ihn korrigiert, als er mit 36 Jahren zum ersten Mal versuchte, seiner Mutter in die Augen zu blicken.

Gestik und Mimik waren für den gebürtigen Hamburger eine Fremdsprache, die es mühsam zu erlernen galt. In seinem Mikrokosmos der Einsamkeit hat er diese Fähigkeiten der Kommunikation lange Zeit nicht einmal vermisst. Schließlich hatte er bis zu seinem 36. Lebensjahr zu keinem anderen Menschen Kontakt als zu „Haha“, die seine Mutter ist, und „dem Heimer“, der eigentlich Holger heißt und den man als seinen Bruder bezeichnet.

Als Kind hat er lieber stundenlang über Sand gestreichelt, der „körnig war wie Zucker“, statt mit Kindern zu spielen, die er nicht erkennen konnte, weil ihre „pfützenhaften Gesichter“ zerflossen, sobald er sie zu fixieren suchte. Bedrohlichen Fledermausmeuten gleich rotteten sie sich um den Jungen zusammen. Die Menschen seiner Umwelt sprachen nicht, sie „machten Geräusch“. Von Dingen unterschieden sie sich nur dadurch, dass „man sie beim Namen nannte“. Der Keller war sein bester Freund. Gespräche suchte er nicht. Axel war sich selbst genug.

Sein Kopf nickt beim Lesen, als tastete er die Wortreihen ab, die auf einem Fließband unter ihm hindurch geschleust zu werden scheinen. Mit der Sprache geht Brauns um wie ein Außerirdischer, der für seinen Ausflug auf die Erde einen immensen Wortschatz angesammelt hat, dem Bedeutungskonventionen aber fremd sind. Floskeln haben im Text eines Autisten kein Zuhause. Alles Geschilderte zeichnet sich dadurch aus, dass Brauns es durch die Brille dessen sieht, der diese Welt zum ersten Mal betritt.

Mit kindlicher Verwunderung nahm Brauns den größten Teil seines Lebens zur Kenntnis, dass Menschen die Erde nach Möhren durchsuchen und dabei auch noch zuverlässig fündig werden. Die Sprache kam mit etwa 12 Jahren in sein Leben: in Form von Kreuzworträtselgittern. Eine Rätselredaktion sicherte der Hamburger Familie den Lebensunterhalt – und Axel den Zugang zu einer Welt, die für ihn längst verloren zu sein schien. Buchstaben in Vierecken, jeder für sich, aneinandergekettet zu langen Reihen, das war „Sprache, wie ich sie mochte“. Axel schob fortan Buchstaben in die Wohnungsfliesen und das Straßenpflaster und bevölkerte seine Umwelt auf diese Weise mit Wörtern. Er holte auf, was Gleichaltrige ihm lange Zeit voraus hatten, machte ein „glänzendes Abitur“ und veröffentlichte Jahre später seinen ersten autobiographischen Roman.

Bei seiner Lesung bemüht sich Axel Brauns um Tonfall, Lächeln und unterstreichende Gesten. Den ganzen Abend wandert er entlang der Grenze zwischen seiner Welt und der Welt der anderen. Er pflegt Beziehungen zu anderen Menschen und manchmal, so erstaunt er sich, „bin ich glücklicher mit anderen als alleine“. Konversation ist ihm zu einer Fingerübung geworden. Heute kann Axel Brauns reden wie ein altes Waschweib. Die Nasenwurzeln hat er dabei fest im Blick.

Von Axel Brauns sind erschienen: „Buntschatten und Fledermäuse“, Hoffmann und Campe 2002, Euro 21,80 (als Taschenbuch bei Goldmann, 2004, Euro 9,90) und „Kraniche und Klopfer“, H+C 2004, Euro 21,95

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen