piwik no script img

Das Fließen der Zeit

Nicht steuernd eingreifen, sondern zu sehen geben: Der Regisseur Jean Eustache drehte Spielfilme, die aussehen wie Dokumentarfilme, und umgekehrt. Jetzt zeigt das Arsenal eine Retrospektive

Als stiller Beobachter hörte er den anderen zu und bildete sich im Verborgenen

VON JÖRG BECKER

Sprichwörtlich geworden ist der Titel eines Eustache-Films, in dem das widersprüchliche Frauenideal des unreifen Mannes benannt ist: Die Mutter und die Hure – „La maman et la putain“ (1972/73), trotz fast vier Stunden Länge der einzige Erfolg des Regie-Außenseiters. Der Kritik galt dieser Film als der Endpunkt der „Nouvelle Vague“ und zugleich als das melancholische „Mai 68“-Résumé aus Frankreich, ein Film, der die große Ernüchterung, den Rückfall in private Beziehungsmuster mit Aussicht auf Heirat und Kind verfolgt, als hätte sich zwischendurch nichts ereignet auf den Straßen.

In dieser filmemacherischen „Education sentimentale“ umschreibt Jean Eustache das Ende der Utopie, ohne darüber zu urteilen, in Dialogen, die improvisiert erscheinen, doch einem präzisen Drehbuch folgen. Der Erzählrhythmus wird zum Lebensrhythmus, Szenen laufen in Realzeit ab: Wenn ein Mädchen auf dem Bett liegt und ein Chanson von einer Edith-Piaf-Platte hört, dann dauert diese Einstellung exakt so lange wie das Lied. Jean-Pierre Léaud, Shootingstar der Nouvelle-Vague-Akteure, driftet durch Paris im Sommer, liest Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und gerät in einen Zyklus der Liebesbeziehungen hinein.

Mit „Numéro Zero“ (Nullnummer, 1971) greift Eustache eine radikale Geste vom Anfang des Kinos wieder auf. Die Aufnahmezeit der Kamera ist mit der Filmzeit identisch, denn zwei Kameras sind nebeneinander auf das Geschehen gerichtet; die eine startet, bevor die andere das Rollenende erreicht. Eustache gegenüber sitzt seine Großmutter aus Pessac, zieht die Tischdecke glatt und spricht bald – von Eustache nur ermutigt, nie gezielt befragt – über den Ehemann und die Untreue, über ihre Kinder und die Todesfälle, den Alltag auf dem Land, manch seelische Grausamkeiten und endlich das einzige Glück, das in der frühen Kindheit lag. All das bleibt anekdotisch ungeordnet und wuchernd, ungeschnittene freie Rede im Fließen der Erinnerungen an die eigene Lebensgeschichte, während der Enkel zuhört, seine Zigarre befingert, aus der „Ballantine’s“- Flasche Whiskey nachgießt und für den Kameramann die Klappe schlägt. Steuernde Eingriffe kommen für Eustache nicht in Betracht: Er gibt zu sehen, zeichnet die assoziativen Erinnerungsschleifen durch sechs Generationen seiner Familie auf. Eustache hat „Numéro Zero“ 1971 vor acht geladenen Gästen gezeigt und dann gar nicht erst veröffentlicht. Im Jahr 2003 wiederentdeckt, hat der Film jetzt seine deutsche Erstaufführung.

Eustaches Werk lag beständig quer zu den Produktionsnormen seiner Entstehungszeit, es zählt zwölf Filme ganz unterschiedlicher Länge, mitunter Spielfilme, die wie Dokumentarfilme aussahen, und umgekehrt, jeder für sich eine eigene Recherche dessen, was Kino ist. In den letzten Jahren vor seinem Freitod 1981 gab es vereinzelte Arbeiten für das Fernsehen.

Jean Eustache hatte sich in der Aufbruchphase um 1960 unerklärt und kaum bemerkt in den Kreis der Pariser Filmzeitschrift Cahiers du cinéma eingeschlichen – seine damalige Frau war dort Sekretärin. Ähnlich seiner Haltung als Regisseur war er zunächst stiller Beobachter, hörte den Reden der anderen zu, bildete sich im Verborgenen. Wie viele aus dem Cahiers-Zirkel war er Autodidakt. Doch seine Filme vermeiden den ausdrücklichen Autorenstandpunkt, Moral und Polarisierung, etwa die politisch verstandene Modernität Godards oder die Hypothesen- und Entwicklungserzählungen von Eric Rohmer.

Wie er die eigene Kindheit erlebt hat, wird in seinem autobiografischen „Mes petites amoureuses“ (Meine kleinen Geliebten, 1974) – dem einzigen Film Eustaches, der ohne permanente Geldnot gedreht wurde – nostalgisch inszeniert: mit großer Gelassenheit, die den Anschein des Gleichmütigen trägt, hinter dem sich erlittene Demütigung und Tristesse verbergen. Einmal sitzt Eustache seinem filmischen Alter Ego an der Promenade in Narbonne, wo Eustache die Jugendjahre verbracht hatte, auf einer Parkbank gegenüber, und beide, der Regisseur seiner eigenen Jugendgeschichte und sein junger Darsteller, schauen in einer Art wechselseitigen Spiegelung den Küssen junger Paare zu.

In „Das Zeit-Bild“ hat Gilles Deleuze das „Diptychon“ zur Grundform der Filme Jean Eustaches erklärt. Es ist die Form, in der Veränderung, Wandel in der Zeit in wiederholten Ritualen sichtbar wird, wie in „La Rosière de Pessac“ (1968/1979), wo Eustache zwei Versionen von der Wahl der Rosenkönigin in seinem Heimatort nahe Bordeaux koppelt. Auch „Une sale histoire“ (Eine schmutzige Geschichte, 1977) besteht aus zwei separaten Filmteilen. Der erste, im Stil des cinéma direct gedreht, zeigt einen Mann, der von einer voyeuristischen Erfahrung in einem Pariser Café erzählt: Am unteren Ende der Trennwand zwischen Telefonzelle und Damenklo war ein Loch ausgehobelt. Vor allem Frauen hören dieser Geschichte von Scham und Heimlichkeit nicht ohne Genuss zu, die zunehmend Macht ausübt und alle Anwesenden ihrerseits in die Rolle von Voyeuren versetzt – als unmittelbare Zeugen der Erzählung, nun selbst Voyeure des Voyeurs.

Für den zweiten Filmteil transkribiert Eustache die Tonspur, gibt diesen Text einem professionellen Schauspieler (Michael Lonsdale) und filmt ihn nach den Regeln des Spielfilms. Dieser Bearbeitung wird dann vor die Dokumentation, der ihrerseits eine Erzählung von Jean-Noël Picq als Vorlage diente, vorangestellt: „zuerst das Gemälde, dann das Modell“. Auf irritierende Weise spiegeln sich Vorbild und Nachahmung ineinander – magisch besetzt bleibt der Blick durch das kleine Loch unten in der Tür.

Retrospektive im Arsenal, Termine im Programmteil

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen