Fallstricke der Sichtbarkeit

Grenzen lassen sich nicht auflösen: Die Ausstellung „Das neue Europa“ in der Wiener Generali Foundation beschreibt die europäische Identität als über Ausschluss und Ausgrenzung konstruiert

VON JENS KASTNER

Die auf einen Stapel DIN-A3-Papier projizierte Zeichnung eines Gefängnishofes verwandelt sich alle zwanzig Sekunden in die einer Bühne. Gemeinsam sind beiden Skizzen die Scheinwerfer: Einmal strahlen sie vom unteren Bühnenrand, einmal vom oberen Rand der Gefängnismauer die Bildmitte an. „Die Sichtbarkeit“, hatte Michel Foucault in „Überwachen und Strafen“ geschrieben, „ist eine Falle.“ Die Künstlerin Natascha Sadr Haghighian hat eine schöne und zugleich überzeugende Möglichkeit gefunden, diesen Gedanken zu veranschaulichen.

Auch Renaud Auguste-Dormeuil bezieht sich implizit auf den französischen Poststrukturalisten, indem er ein Fahrrad mit einem Siegelschild als Dachgerüst ausstattet. Diese Konstruktion nennt sich „Gegen-Projekt Panopticon“. Sie soll den Zugriff satellitengesteuerter Personenüberwachung durch das gegenwärtig entwickelte europäische Ortungssystems Galileo, mit dem sich der Künstler beschäftigt, verhindern. Die Auseinandersetzung mit der Herstellung von Öffentlichkeit bei Sadr Haghighian und mit deren Kontrolle bei Auguste-Dormeuil steckt zwei Pole ab, zwischen denen sich die künstlerische Hinterfragung von außerästhetischen Realitäten zu bewegen hat. Auch und gerade im „neuen Europa“.

Denn „Das neue Europa“, wie auch der Titel der von Marius Babias (Berlin) und Dan Perjovschi (Bukarest) zusammengestellten Ausstellung in der Wiener Generali Foundation heißt, ist ein umstrittener Terminus. Er ist wesentlich gekennzeichnet durch Unklarheit: Bezeichnet er die EU nach dem Kalten Krieg oder nach der Erweiterung? Oder ist überhaupt nicht die EU gemeint, sondern die kriegswilligen und US-hörigen Staaten nach der Einteilung des US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld? Oder auch ganz grundsätzlich: Ist es schon da und wenn nicht, sollte oder muss es erst erkämpft werden? Die Ausstellung ist als Positionierung, als Stellungnahme auf genau diesem umkämpften kulturellen Feld zu verstehen.

Man mag vielleicht die Rumsfeld-Klassifizierung wieder abschütteln können, weil sie noch recht jung ist. Europa aber ist alt. Und das, was neu daran ist, ist nicht gerade gut. (Das, was alt ist, übrigens auch nicht: So übel das Schengen-Abkommen ist, im Vergleich zu den vergangenen 500 Jahren europäischer Geschichte schneidet es ganz gut ab. d. Red.) Denn mit dem seit Beginn der Neunzigerjahre forcierten Integrationsprozess ist Europa als Festung konzipiert, geprägt von restriktiven Migrationspolitiken der EU-Mitgliedstaaten. Dass sich eine „europäische Identität“ im Alltag der meisten Menschen noch nicht gebildet hat, ist kein Wunder, wird sie doch in erster Linie durch Ausschluss gebildet oder durch Abgrenzung: wahlweise vom „zersplitterten Balkan“, der „islamischen Türkei“ oder natürlich den „kulturimperialistischen USA“.

Der Titel ist also auch als Versuch zu verstehen, dieses Außen nicht zu sehr in den Vordergrund zu rücken. Als eine kleine Vorarbeit auf dem Weg zu einer positiv gewendeten Europavorstellung wird die in den letzten Jahren so häufig benutzte Figur des Dialogs zwischen West- und Ostkunst verabschiedet: um diese Differenz nicht weiter festzuschreiben. Die verwendeten künstlerischen Methoden lassen diese Unterscheidung ohnehin nicht zu. Alles, was in den letzten Jahren an konzeptuellen künstlerischen Praktiken für Furore gesorgt hat – Sammlung, Archiv, Kartografie –, ließ sich nicht auf spezifisch geografische Ursprünge in Südost- oder Westeuropa zurückführen.

Gleichzeitig, darauf weist Hito Steyerl hin, lassen sich bestehende Grenzen auch nicht einfach diskursiv auflösen. Das gilt für innere soziale Unterschiede ebenso wie für äußere politische Demarkationslinien. Ihre zweiteilige Video-Installation zeigt Aufnahmen aus „Mini-Europa“, einem Vergnügungspark in Brüssel, in dem nicht nur das Brandenburger Tor und der schiefe Turm von Pisa im Maßstab 1:25 zu bestaunen sind. Die BesucherInnen werden dazu animiert, in interaktiven Spielen die an die Wand projizierten inneren EU-Grenzen zum Verschwinden zu bringen. An den Außengrenzen ist natürlich nichts zu machen.

Das Dokumentarische scheint sich in besonderer Weise anzubieten, um auf die Hürden, Stolpersteine oder auch auf die fundamentalen Hindernisse einer positiv gewendeten europäischen Identität hinzuweisen. Die Filmemacherin Jasmila Žbanic hat sich in ihren Arbeiten vornehmlich mit den Traumata des Krieges auseinander gesetzt und unter anderem eine Kommission für die Suche von Verschwundenen bei ihren Exhumierungsarbeiten in Bosnien begleitet. In ihrem Film schildert einer der Protagonisten, wie vertraut er durch Recherchen und die ständige Beschäftigung im Laufe der Suche mit den einzelnen Vermissten geworden ist – ohne vorhersagen zu können, ob sie jemals aufgefunden werden.

In Analogie zur Vorstellung eines Europa, dessen Verletzungen und Verbrechen erst noch suchend aufgearbeitet werden müssten, ohne dass allerdings Gewissheit über den Ausgang dieses Prozesses erlangt werden kann, liefert Jasmila Žbanic mit dieser Aussage vielleicht sogar die eindringlichste Metapher, die die gelungene Schau zu bieten hat.

Bis 24. April, Katalog (Buchhandlung Walther König) 18 €