Jüdisch für Anfänger

Die jüdische Gemeinde in Bad Segeberg ist den Orthodoxen ein Dorn im Auge. Frauen betätigen sich als Vorbeter, und mit den Abstammungsgesetzen nimmt man es auch nicht so genau. Die meisten Gemeindemitglieder kommen aus der ehemaligen Sowjetunion

aus Bad SegebergReiner Scholz

Am Eingang hat jemand ein Schild aufgestellt: „Jüdische Gemeinde“. Ludmilla Bunikowa, die junge stellvertretende Vorsitzende, begrüßt jeden Neuankömmling mit Handschlag. Der Sitzungssaal ist karg. An einer Wand ist die Fahne Israels befestigt, blauer Davidsstern auf weißem Grund. Darunter steht auf einem Tisch ein siebenarmiger Messing-Leuchter, der dem Raum ein wenig Würde gibt. In dieser „Evangelischen Bildungsstätte“ am Rande von Bad Segeberg ist die Jüdische Gemeinde untergekommen, solange sie noch keine eigenen Räume hat. Etwa 150 Gläubige haben an diesem Samstagmorgen auf den schwarzen Polsterstühlen Platz genommen. Die Männer tragen die Kippa, eine flache, fast runde Kopfbedeckung, die am Eingang ausliegt.

Heute predigt kein Rabbi, singt kein Kantor. Die Juden in Bad Segeberg haben wenig Geld. Und sie kommen auch gut ohne Autoritäten klar: „Vorbeter sind diesmal drei aus unserer Gemeinde“, sagt Ludmilla Budnikowa stolz. Von denen, die da vorne stehen und sich den weißen Gebetsschal angelegt haben, sind zwei Frauen. Was in den 95 Prozent orthodoxen Gemeinden der Bundesrepublik undenkbar ist, gilt bei den liberalen Juden als selbstverständlich. „Wir russischsprachigen Juden kennen die Gleichberechtigung aus unserer Heimat“, sagt Budnikowa. Die Segeberger Verwaltungsangestellte kam 1997 nach Deutschland.

Gottesdienst in Bad Segeberg, das ist auch ein Schulungsprogramm. Die Gläubigen bekommen am Eingang eine rote Plastik-Mappe mit Kopien jüdischer Lieder und Gebete ausgehändigt. Alles ist mehrsprachig: Deutsch, russisch und hebräisch. Wobei das Hebräische, die „Amtssprache“ des Judentums, die hier kaum jemand beherrscht, noch in eine Lautschrift übersetzt ist. Kleine Piktogramme informieren darüber, wann der Vorbeter dran ist, wann die Gemeinde.

Die deutsche Predigt, eine Auslegung des Wochenabschnitts der Tora, übersetzt Ludmilla Budnikowa ins Russische. Hier fühlt sich niemand fremd. „In den Gottesdiensten vor zwei Jahren, da hatten wir nur eine ganz schüchterne Beteiligung“, erinnert sich Frauke Potschoss vom Gemeindevorstand. „Da wurde nur leise mitgelesen. Doch jetzt machen alle ganz toll mit“, freut sich die Politologin, die 1991 aus der DDR übersiedelte. Ihr kommt zugute, dass sie in der Schule Russisch gelernt hat. So habe sie für die russischsprachigen Zuwanderer eine wichtige Funktion, sagt sie. Mittlerweile gebe es aber auch unter den anderen Deutschen in ihrer Gemeinschaft kaum jemand, der nicht ein paar Worte Russisch könne.

Die jüdische Gemeinde in Bad Segeberg wurde erst 2002 gegründet. Sie umfasst derzeit schon 170 Mitglieder und besteht zu mehr als achtzig Prozent aus jüdischen Zuwanderern, die aus der ehemaligen Sowjetunion kamen. Sie ist damit keine Ausnahme in Deutschland. Gekommen sind – wie anderswo auch – Zuwanderer, die sich kaum in der jüdischen Liturgie auskennen, kein oder kaum deutsch sprechen und nach jüdischen Gesetz nicht einmal wirkliche Juden sind. Zudem sind, das ist ein zusätzliches Problem, die meisten Ehepartner nicht-jüdisch. Diese Menschen stellen mittlerweile die Mehrheit in den meisten Gemeinden. „Es gibt Großgemeinden, in denen sich dann ‚feindliche Fraktionen‘ bilden, Alteingesessene gegen ‚Russen‘. Das konnten wir vermeiden, vielleicht auch, weil wir hier einige haben, die aus der DDR kommen und diese Fremdheitserfahrungen auch kennen“, sagt Frauke Potschoss. Die Gottesdienste der Segeberger Gemeinde sind immer gut besucht sind, während andere, weit stärkere Gemeinden, nicht selten Schwierigkeiten haben, die zehn Männer zusammen zu bringen, ohne die ein Gottesdienst nach jüdischem Gesetz gar nicht begonnen werden darf.

Eine der Neuen in Bad Segeberg ist Alissja Filatowa. Die 54-jährige Englischlehrerin aus Moldawien, seit 2002 in Deutschland, ist stolz darauf, dass sie heute zum ersten Mal eine Vorbeterin im Gottesdienst ist. Sie fühlt sich in ihrer Gemeinde sehr wohl. Nicht aber in Deutschland. „Leider habe ich keine Arbeit. Es ist mir peinlich, von dem Geld anderer Leute leben zu müssen. Ich möchte mich wieder als Mensch fühlen, zur Zeit fühle ich mich als Insekt.“ Sie überlegt, nach Moldawien zurück zu gehen. Doch da würden Mann und Tochter nicht mitziehen.

Die junge Gemeinde in Bad Segeberg bekam im Februar zum ersten Mal Unterstützung vom Staat. Bis dahin hatte die jüdische Gemeinde in Hamburg, die orthodox ausgerichtet ist, die Gemeinden in Schleswig-Holstein mit betreut und auch deren Gelder verwaltet. Die liberale Gemeinde in Bad Segeberg galt den Hamburgern als „nicht richtig jüdisch“ und sah deshalb keinen Cent. Die Segeberger klagten und bekamen Recht. Mit dem Geld, das sie nun erhalten, werden sie bald eigene Räume anmieten, in denen sie beten, Hebräisch lernen oder „sich einfach nur treffen“ können, wie Walter Blender den Gottesdienstbesucher an diesem Vormittag mitteilt. Der 43-Jährige, der mit Turnschuhen und Sweat-Shirt auftritt, ist der Vorsitzende der Gemeinde. Von Beruf ist er Kriminalhauptkommissar in Bad Segeberg, zuständig unter anderem für Sittendelikte.

„Wir haben eigentlich immer gute Laune“, beteuert Walter Blender. Man helfe sich, sei eine große Familie. Für ihn hat das auch damit zu tun, dass in Bad Segeberg die nichtjüdischen Ehepartner in das Gemeindeleben mit einbezogen werden. „Während man in den orthodoxen jüdischen Gemeinden mit diesen Menschen wenig anfangen kann, liegen die Zuwanderer mit jüdischem Vater, die streng nach dem Gesetz keine Juden sind, bei uns vielen am Herzen“, sagt Walter Blender. „Wir können sie zwar nicht zu Vollmitgliedern machen, aber sie können Fördermitglieder werden.“

Ohne die jüdische Zuwanderung würde es Gemeinden wie die in Bad Segeberg gar nicht geben. Weil es zudem gelingt, die „russischen Juden“ zu integrieren, hält man dort wenig von den politischen Plänen, die Zuwanderung aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zu drosseln. Die stellvertretende Gemeindevorsitzende Budnikowa hält es für verfehlt, dass nur noch diejenigen nach Deutschland einreisen sollen, die den Stempel einer deutschen jüdischen Gemeinde vorweisen können. Man müsse auch an die Familienzusammenführung denken, so Ludmilla Budnikowa. „Gestempelt wurde in Russland schon immer. Das finde ich nicht gut. Im übrigen gibt es doch auch die Möglichkeit, zum Judentum überzutreten“.

Doch genau damit tut sich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland sehr schwer. Die jüdische Religion sei keine Missionsreligion, heben die überwiegend orthodoxen Rabbiner hervor. So ist die Zahl derer, die vom Rabbinatsgericht als „Juden“ anerkannt werden, in Deutschland immer noch verschwindend klein.

Dennoch beteiligen sich auch die „Nicht-Juden“ an diesem Samstag in Bad Segeberg am Gottesdienst. Und als danach alle – die mit einem jüdischen Vater und die mit einer jüdischen Mutter – zusammen sitzen und die mitgebrachten Speisen verzehren, während die Kinder Hebräisch lernen, da ist nicht mehr auszumachen, wer wirklicher Jude ist und wer nicht – in dieser jüdischen Gemeinde in Bad Segeberg.