Der Instinkt-Kanzler

Viele ehemalige Mitstreiter und Gegner Kohls galten als intelligenter, auch als intellektueller. Was hat ihnen das genützt? Nichts

VON BETTINA GAUS

Die westdeutsche Linke hat die Wahl von Helmut Kohl zum Bundeskanzler lange für ein Missverständnis gehalten. Sie amüsierte sich über „Birne“, witzelte herablassend über die Ankündigung seiner „geistig-moralischen Wende“ und war überzeugt, die von ihr selbst entworfene Karikatur eines Regierungschefs werde schon bald als schmählich Gescheiterter in die „Gechichte“ eingehen. Viele Linksintellektuelle hätten nicht besser zeigen können, dass sie die Stimmung im Land nicht zu deuten verstanden. Der Mann, der am Sonntag 75 Jahre alt wird, richtete sich unterdessen in der Macht ein und festigte ebenso zäh wie beharrlich seine Position.

Runde Geburtstage sind Anlässe für die überwiegend wohlwollende Bilanz eines Lebenswerks. Lässt sich eine solche nicht ziehen – weil es gerade nicht opportun erscheint oder weil es niemals mehr möglich sein wird, wer will das auf der Höhe des Zeitgeists schon entscheiden? –, dann wird ein Jubiläum möglichst ignoriert. So geschehen vor fünf Jahren. Auf dem Höhepunkt der Spendenaffäre zog die CDU es seinerzeit vor, den Eindruck zu erwecken, sie habe mit Helmut Kohl dauerhaft gebrochen. Sie sagte geplante Empfänge zum 70. Geburtstag des einstigen Ehrenvorsitzenden der Partei ab.

Inzwischen ist viel passiert. Oder gar nichts. Das kommt auf den Standpunkt an. Kohl ist jedenfalls bei seiner Haltung geblieben. Er verschweigt nach wie vor, wer ihm Gelder in Millionenhöhe überreicht hat, und er bleibt dabei, dass sein Ehrenwort gegenüber anonymen Parteispendern höher steht als das Gesetz. Was sich geändert hat: die Einstellung der Bevölkerung und der politischen Klasse zum Thema. Sensationen sind im Zusammenhang mit der Spendenaffäre nicht mehr zu erwarten. Das reicht für Vergebung. Wenn man auf den Kick neuer Enthüllungen ohnehin nicht hoffen kann – wozu dann noch nachtragend sein?

Bevölkerung und Politiker sind sehr viel nachsichtiger, als ihnen gemeinhin unterstellt wird. Kohl ist inzwischen wieder ein gefragter Vortragsredner, Interviewpartner, politischer Deuter. Ein geachteter elder statesman also. Der zumindest Anspruch auf Beantwortung der Frage erheben kann, was er erreicht hat und was von ihm bleiben wird.

Was also hat er erreicht, was wird von ihm bleiben? „Kanzler der Einheit“ ist das leicht lesbare Etikett, das ihm eine Öffentlichkeit aufgeklebt hat, die alles hinzunehmen bereit ist, nur keine Eintönigkeit. Allzu große Differenzierungen langweilen. Soll heißen: In der Regierungszeit von Helmut Kohl ereigneten sich der Fall der Mauer und das Ende der deutschen Zweistaatlichkeit. Also ist er der Kanzler der Einheit. Oder?

Ja, das ist er. Tatsächlich. Klischees haben die Eigenschaft, einen wahren Kern zu enthalten, sonst werden es keine. Und Helmut Kohl ist wirklich der Kanzler der Einheit. Andere Politiker wie der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher, die jahrelang in mühseliger Kleinarbeit um eine Annäherung der beiden deutschen Staaten gerungen haben, mögen es als ungerecht empfinden, dass ausgerechnet Kohl, den die deutsche Frage so brennend niemals interessiert hat, den Lohn (auch) ihrer Mühen einheimst.

Es ist nicht ungerecht. Der Bundeskanzler hat den richtigen Zeitpunkt erkannt, um für ein Ziel zu kämpfen, das seinerzeit fast niemand für auch nur theoretisch erreichbar gehalten hätte: die deutsche Einheit – unter dem Dach der Nato und fest im westlichen Bündnis verankert. Das sei nicht mehr gewesen als das Ergebnis von politischem Instinkt? Ja, vielleicht ist das so. Aber politischer Instinkt ist eben ein weithin unterschätztes Talent.

Das gelegentlich seltsame Blüten treibt. Etwa die, den Nato-Doppelbeschluss durchzusetzen und sich als Transatlantiker feiern zu lassen – und dennoch den US-Präsidenten Ronald Reagan auf den Soldatenfriedhof in Bitburg zu treiben, um die dunkleren Seiten der deutschen Seele zu beglücken. Fragwürdig das eine wie das andere, nicht nur hinsichtlich des nationalen Interesses. Im Blick auf die eigene Imagewerbung jedoch allemal zielführend.

Nichts ist so oft im Zusammenhang mit der Person von Helmut Kohl gerühmt worden wie seine Begabung, Stimmungen und Gelegenheiten zu erahnen und zu nutzen. Manche ehemaligen Mitstreiter und spätere parteiinternen Gegner galten als intelligenter, auch als intellektueller. Der ehemalige Generalsekretär Heiner Geißler etwa oder der ewige Kronprinz Wolfgang Schäuble. Was hat denen ihre geistige Überlegenheit genutzt? Nichts.

Helmut Kohl hat ihnen eine ungemein nützliche Fähigkeit voraus, die sich offenbar nicht erlernen lässt. Er hat ein Gespür dafür, was die Leute denken. Ist es ein Zufall, dass gerade dieses Talent ausgerechnet in Deutschland eine unabdingbare Voraussetzung für politischen Erfolg zu sein scheint? Ist es in anderen europäischen Ländern von vergleichbar großer Bedeutung? Darüber lässt sich streiten.

Worüber sich kaum streiten lässt: Helmut Kohl erfüllte in vielerlei Hinsicht die Wünsche, die eine Mehrheit im westlichen Nachkriegsdeutschland jahrzehntelang mit der Person des Regierungschefs verband. Er war selbstbewusst genug, um glaubwürdig Autorität ausstrahlen zu können und die Rolle eines Vaters der Republik auszufüllen, der weiß – oder doch überzeugend zu wissen vorgibt –, was gut ist für das Volk. Gleichzeitig aber, und das ist vermutlich noch wichtiger, ließ er wie jeder gute Patriarch die Leute in Ruhe. Jedenfalls so weit wie irgend möglich. Und gelegentlich darüber hinaus.

Was oft als das „Aussitzen“ von Problemen kritisiert wurde, übte eine beruhigende Wirkung aus. Die Bevölkerung war vor Überraschungen gefeit, vor unangenehmen zumal. Kohl nahm die Reform der sozialen Sicherungssysteme nicht in Angriff, sondern er vermittelte den Eindruck, ein paar kleinere Korrekturen könnten ausreichen, um die Probleme zu lösen. Als sich herausstellte, dass der deutsche Einigungsprozess erheblich teurer werden würde, als von ihm (und von anderen) erwartet worden war, und dass „blühende Landschaften“ in naher Zukunft nicht zu besichtigen sein würden, da zog er es vor, die Augen vor dieser Erkenntnis zu verschließen. Und stellte somit, zumindest emotional, ein weiteres Mal die geistige Übereinstimmung mit seinem Wahlvolk her.

Mit Sicherheit lässt sich niemals ein Urteil darüber fällen, wie ein Mensch zu dem wurde, was er im Alter ist. Vermutungen sind jedoch immerhin erlaubt. Vielleicht haben Helmut Kohl seine Niederlagen lange mehr geprägt als seine Erfolge. Er wusste, wie man sich als Verlierer fühlt. 1971 unterlag er Rainer Barzel im Kampf um den Parteivorsitz. Fünf Jahre später verlor er – inzwischen Oppositionsführer – die Bundestagswahl. 1979 musste hinnehmen, dass ihm Franz Josef Strauß die Kanzlerkandidatur erfolgreich streitig machte. Und gegen Helmut Schmidt verlor.

Was für eine Genugtuung für Helmut Kohl, der – im Unterschied zu Strauß – stets weit mehr auf Ausgleich und Kompromiss gesetzt hatte als auf eine Polarisierung der politischen Lager. Und der niemals aus den Augen verlor, wie es sich anfühlt, benachteiligt zu sein. Es blieb ihm wichtig, das Gespür dafür im Hinblick auf andere nicht zu verlieren. Jedenfalls im Blick auf jene anderen, die seine Zukunft als Wähler und Wählerinnen zu beeinflussen vermochten.

Wer zu diesem Kreis nicht zählte, dessen Schicksal schien den Kanzler weniger zu interessieren. In seiner Amtszeit wurde das Grundrecht auf Asyl seines Inhalts beraubt, beleuchtet vom Flammenschein brennender Ausländerwohnheime. Hat ihn ein Ereignis dieser Art je wirklich erschüttert? Falls ja, dann hat sich das zumindest nicht ins kollektive Gedächtnis eingegraben.

Helmut Kohl ist ein deutscher Europäer, im guten wie im schlechten Sinne. Als Kanzler war er ein Moderator, kein Einpeitscher. Er schätzte den Kapitalismus rheinischer Prägung, vulgo: den Sozialstaat. Er konnte gegen die sozialliberale Deutschlandpolitik polemisieren. Und führte sie dennoch nach seinem Amtsantritt ganz einfach weiter fort. Er schwadronierte im Blick auf Deutschland vom wehenden Mantel der Geschichte. Ohne dass irgendjemand ihm deshalb hätte begründet unterstellen mögen, dass er der europäischen Einigung skeptisch gegenüberstand. Seine Sentimentalität war ebenso voluntaristisch wie egozentrisch. Das enervierte, wirkte aber nicht bedrohlich.

Vielleicht ist dies das Beste, was sich über Helmut Kohl sagen lässt: Er war – und ist – jeder Radikalität unverdächtig. Also auch kein Nationalist. Wer ihm gefährlich zu werden drohte, der wurde erbarmungslos entmachtet. Wer ihm diente, wurde belohnt. Ein schlichtes, redliches, feudalistisches Prinzip. Dem er auch in der Parteispendenaffäre noch treu blieb. Wer außer ihm hätte überzeugend sowohl für die deutsche Einheit als auch für die Einführung des Euro fechten können? Vermutlich kein anderer Vertreter seiner Generation.

Ist das auch für die taz ein hinreichender Anlass, um Girlanden zu winden? Nun ja. Es hätte auch schlimmer kommen können. Besser allerdings wohl auch. Vielleicht ist das Ende der Kanzlerschaft von Helmut Kohl letzten Endes beruhigender als ihr Verlauf: Er verlor die Macht, weil die Leute nach 16 Jahren seiner ganz einfach überdrüssig geworden waren. Nicht etwa infolge eines Glaubenskrieges. Das ist – gemessen am sonstigen Verlauf der deutschen Geschichte – doch angenehm unspektakulär.