Geschichte wird gemacht – auch die deutsch-türkische

BILDUNG Jugendliche sollen helfen, Schulmaterial zur deutsch-türkischen Migration zu entwickeln

„Ich bin nicht unbedingt Deutsche, aber Berlinerin“

Saira Amjad, 20, Studentin

Wenn Saira Amjad gefragt wird, wer sie ist und wo sie herkommt, dann sagt sie: „Ich bin ein Mensch, der in Berlin lebt.“ Die Tochter einer Deutschfranzösin und eines iranischen Vaters, aufgewachsen mit einem pakistanischen Stiefvater, hat früh aufgehört, darüber nachzudenken, welcher Nationalität und Religion sie angehört. Das war ihr zu anstrengend, sagt sie. „Ich bin nicht unbedingt Deutsche, aber Berlinerin“, erzählt die 20-jährige Studentin der Erziehungswissenschaften aus Kreuzberg. „Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu leben, Berlin ist so schön durchmischt, da passe ich am ehesten rein.“

Saira sitzt bei der Auftaktveranstaltung des deutsch-türkischen Projekts „Zuerst einmal bin ich Mensch“ im Anne Frank Zentrum in der Rosenthaler Straße. Als eine von sechs Jugendlichen nimmt die 20-Jährige an dem zweisprachigen Projekt des Anne Frank Zentrums teil, das durch das Bundesfamilienministerium gefördert wird. Ziel sei, bis Ende des Jahres mehrere Kurzfilme und Begleitmaterialien über die Migrationsgeschichte zwischen Deutschland und der Türkei zu entwerfen, erklärt Referent Naim Balikavlayan. Im Zentrum stünden dabei die Biografien von sechs Menschen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen den beiden Ländern übersiedelten. Das Material soll an Oberschulen und in Jugendzentren zum Einsatz kommen. Aber auch im Internet werden die Ergebnisse auf der Webseite des Anne Frank Zentrums öffentlich zugänglich sein.

„Beim ersten Workshop Anfang November haben wir eine Zielgruppenanalyse gemacht“, erzählt Balikavlayan. „Sechs Jugendliche, zwei von ihnen hatten keinen Migrationshintergrund, haben Webseiten, Filme und Bücher bewertet, die deutsch-türkische Biografien aufarbeiten.“ Der nächste Termin ist Ende Februar in Schulen geplant. „Wir haben angefragt, ob wir Probe-Unterrichtseinheiten übernehmen können“, erzählt die Projektleiterin Beate Klammt, „einige haben bereits Interesse angemeldet.“ Die Biografien seien vielfältig, sodass sie nicht nur in den Geschichtsunterricht passen würden, sondern auch in Musik oder Sozialkunde.

„Das Meiste von dem, was wir bewerten sollten, fand ich langweilig und öde“, erzählt die Deutschtürkin Gamze Gezerer, eine der Teilnehmerinnen des ersten Workshops. „Ich würde die Materialien humorvoller gestalten.“ Es sei wichtig, die Jugendlichen miteinzubeziehen und offen über Vorurteile zu sprechen, so die Studentin. „Ich hätte mir mehr Überraschungseffekte gewünscht, dass zum Beispiel der Klischeebegriff Kanake verwendet wird, aber von einem türkischen Autor.“

„Wir wollen ein Gegengewicht zu der verkürzten und verzerrten Debatte über den Nationalsozialismus und das Anwerbeabkommen zwischen Westdeutschland und der Türkei schaffen“, sagt Klammt. Neuerdings definiere sich die Bundesrepublik als Einwanderungsland, dabei sei sie das schon immer gewesen. „Anfang des 20. Jahrhunderts sind viele Menschen aus dem Osmanischen ins Deutsche Reich ausgewandert“, erzählt Balikavlayan, „diese Gruppe war religiös völlig heterogen, etwa die Hälfte von ihnen war jüdisch.“ Eine zweite, eher elitäre Gruppe sei in den zwanziger und dreißiger Jahren bevorzugt nach Berlin migriert, um zu studieren oder eine Ausbildung zu machen. Ebenso hätten viele Deutsche den Weg in die Türkei gewählt – aus wirtschaftlichen Gründen oder weil sie vor dem Nationalsozialismus flüchten mussten. All das soll endlich Eingang in den Schulunterricht finden.

„Zuerst einmal bin ich Mensch“ heißt das Projekt im Anne Frank Zentrum

Julia Kohl