„Die IG Metall hat kein schlechtes Image“, sagt Kirsten Rölke

Der Gewerkschaft laufen die Arbeiter weg, darum will sie die Angestellten gewinnen. Und künftig wieder Zähne zeigen

taz: Frau Rölke, „Arbeit hat Vorfahrt“, sagte Herr Köhler neulich. Da hat er doch Recht, oder?

Kirsten Rölke: Arbeit hat grundsätzlich Vorfahrt, auch für uns. Aber natürlich nicht zu jeglichen Bedingungen. So fordert es Hartz IV bisher. Das ist einer der fürchterlichsten Fehler der Regierung. Man kann in Deutschland nicht beliebig mit amerikanischen Rezepten kommen – dass man à la Herr Köhler auch drei Jobs annehmen soll, um seine Miete zu bezahlen.

Müssen Sie in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit nicht Abstriche bei Arbeitnehmerrechten machen?

Nein. Denn Arbeit ist ein Wert an sich für den Menschen. Man kann nur menschenwürdig leben mit einer vernünftigen Arbeitszeit, einem vernünftigen Einkommen und guten Weiterbildungsmöglichkeiten. Arbeit auf unterstem Niveau, wie das gerade etliche Neoliberale meinen, ist einfach eine schreckliche Entwicklung für Deutschland.

Der Kongress heißt „Mut zur Gerechtigkeit“. Wann ist denn der Mut unter Ihren Mitgliedern verloren gegangen?

Wir haben den Mut nicht verloren. Wir pfeifen nicht im dunklen Walde. Wir stehen nicht mit schlotternden Knien da. Das ist ein Appell nach außen – an die Regierung, an die Politik –, sich noch mal mit dem Sozialstaatsmodell auseinander zu setzen und es nicht einfach weiter abzubauen. Für uns bedeutet „Mut zur Gerechtigkeit“, dass wir unsere Positionen deutlicher vertreten müssen. Deshalb machen wir auch diesen Kongress.

Was ist denn Ihrer Meinung nach „gerecht“?

Ein Sozialstaatsmodell, das sich definiert nach den Bedürfnissen der Menschen. Unsere Mitglieder haben nur Abbau erlebt in den letzten Jahren, und da sagen wir nicht „weiter so“, wie es uns nachgesagt wird. Wir wollen den Sozialstaat weiterentwickeln.

Wie soll das finanziert werden?

Die Finanzbasis muss größer werden, indem auch die Selbstständigen und die Beamten in die Solidarität einbezogen werden. Zudem sollen auch andere Einkommensquellen jenseits des Lohnes herangezogen werden wie in der Bürgerversicherung. Dabei sollten Leistungen, die bisher über die Sozialversicherung finanziert wurden, zukünftig über Steuern finanziert werden. Dies gilt beispielsweise für die besonderen zusätzlichen Transferleistungen, die durch die deutsche Einheit anfallen.

Konkrete Vorschläge hatte die IG Metall schon bei ihrem Zukunftskongress im Jahre 2002. Auf die Umsetzung warten ihre Mitglieder bis heute.

Der Kongress heute ist ein weiterer Meilenstein unserer Arbeit. Wir wollen die Themen bestimmen, die uns auf den Nägeln brennen. Wir diskutieren wie schon 2002 mit Experten und wollen ein Handlungsprogramm daraus entwickeln. Die Beteiligung unserer Mitglieder ist uns dabei sehr wichtig.

Wann steht das Handlunsprogramm endlich?

Im Jahre 2007 zum nächsten IG-Metall-Kongress.

Indes verlieren Sie immer mehr Mitglieder.

Wir verlieren vor allem dort, wo wir bisher gut organisiert waren, also in der Industrie, weil dort derzeit viele Arbeitsplätze abgebaut werden. Wir haben auch Schwierigkeiten, neue Mitglieder zu gewinnen. Zum Beispiel in den neuen Branchen und bei den Angestellten. Deswegen arbeiten wir an neuen Wegen, um auf deren besondere Lebens- und Arbeitsbedingungen einzugehen.

Wie wollen Sie die Angestellten überzeugen?

Mit unseren Aktivitäten im Bereich der Weiterbildung zum Beispiel. Gerade die besser Qualifizierten sind in der Vergangenheit davon ausgegangen, dass sie mit einer soliden Erstausbildung gegen die Schwierigkeiten des Wandels gefeit sind. Jetzt stellen sie zunehmend fest, dass sie individuell nur unzureichend auf die starken Veränderungen reagieren können. Mit unseren Tarifverträgen zur Weiterbildung unterbreiten wir auch dieser Gruppe ein offensives Angebot.

Die Gewerkschaften werden oft mit den Kirchen verglichen – beiden geht der Sinn abhanden. Wie wollen Sie Sinn stiften?

Mit unseren deutlichen Positionen – mit einem Strauß von wichtigen Themen in der Tarif- und Sozialpolitik. Wir wollen mehr Arbeit und bessere Arbeit.

Verstehen Ihre Mitglieder den Wechsel zwischen Konfrontationskurs zur Regierung und kleinen Charmeoffensiven?

Ich denke schon, weil unsere Mitglieder aus ihrer betrieblichen Praxis Verhandlungssituationen aus dem Effeff kennen. Sie wissen, dass man in Verhandlungen mal die Zähne zeigen muss, mit Warnstreiks zum Beispiel. Aber dass man auch auf den anderen zugehen muss.

Kommt Ihr jetziges schlechtes Image nicht daher, dass es Ihnen schwer fällt, sich zwischen „Weiter so“ und „Neinsagern“ zu positionieren?

Wir haben kein schlechtes Image. Sonst würden sich doch die Menschen in den Betrieben als Gewerkschafter engagieren. Unser Sozialstaatskongress und das Arbeitnehmerbegehren sind zentrale Pfeiler einer Strategie gegen das „Nicht-Weiter-so“.

INTERVIEW: SASCHA TEGTMEIER