In den Wechseljahren

Der SC Magdeburg ist die jüngste Mannschaft in der Handball-Bundesliga. Nach dem 34:32-Sieg gegen den VfL Gummersbach steht das Team jetzt dennoch im Finale um den EHF-Pokal

AUS MAGDEBURG RONNY BLASCHKE

Manchmal spiegelt sich ein Handballspiel in nur einer Szene wider, dann erzählen Sekunden so viel wie 60 Minuten. Es ist 16.11 Uhr, als sich in der Magdeburger Bördelandhalle zwei Spieler gegenüberstehen, die unterschiedlicher kaum sein können: Der eine, Kyung-Shin Yoon, 31 Jahre alt, ist einer der weltbesten Handballer und beim VfL Gummersbach die Verlässlichkeit in Person. Der andere, Johannes Bitter, Torwart beim SC Magdeburg, 9 Jahre jünger, ist ein Talent und fähig, große Taten zu vollbringen. Doch noch sind seine Leistungen beständig unbeständig.

Ein Siebenmeterduell mit ungleichen Kontrahenten bahnt sich da an. Doch als Yoon zum Wurf ansetzt, hart, aber nicht sonderlich gut platziert, und Bitter die Hände hochreißt und den Ball pariert; als der Magdeburger daraufhin die Fäuste ballt und dem verdutzten Gummersbacher einen Schrei der Freude hinterher schickt, da ahnt man schon, 20 Minuten vor Spielende, dass diese Partie nicht durch Erfahrung entschieden wird – sondern durch Leidenschaft.

Eine Stunde später tritt Bitter aus der Kabine hervor, geduscht und gefönt. Er lächelt, wie Sportler lächeln, wenn sie gerade den größten Erfolg ihrer Karriere erarbeitet haben. 34:32 gewann Magdeburg das Halbfinal-Rückspiel im EHF-Pokal gegen Gummersbach, die 24:25-Niederlage vom vergangenen Mittwoch geriet zu Makulatur. Nach 1999 und 2001 kann der SCM wieder den EHF-Cup gewinnen. Und Bitter ist daran nicht ganz schuldlos. 27 Würfe hat er gehalten in diesem prestigereichen Treffen zwischen dem Rekordmeister der ehemaligen DDR und dem Rekordmeister der BRD.

„Ich fand mich ganz okay, aber das sollen andere beurteilen“, sagt Johannes Bitter und wirkt ein wenig schüchtern. Neben ihm drängeln Jugendliche und bitten um Autogramme. Bitter blickt hinauf zur Museumsecke der Bördelandhalle, wo die vielen gewonnenen Titel aufgelistet sind. „Es ist mir scheißegal, wie viele Meisterschaften der SCM schon geholt hat. Ich will mein erstes Finale gewinnen.“ Das Selbstbewusstsein der Magdeburger Rasselbande tritt eben schubweise in Erscheinung; so war es in dieser Saison und so war es auch am Samstag.

Mal schüchtern, mal forsch: Der SCM im Jahr 2005 durchlebt seine Wechseljahre. Gegen Gummersbach waren sieben Spieler im Aufgebot noch nicht einmal 25, das Team ist das jüngste der Bundesliga. Doch wenn alles wie gegen Gummersbach stimmt – Konzentration, Wille, Lust – und der Gegner einen rabenschwarzen Tag erwischt, dann kann sich der SCM zu großen Taten aufschwingen. „Die ersten 50 Minuten waren die besten in diesem Jahr“, sagte Alfred Gislason, der Trainer des SCM.

Doch überschwänglich freuen konnte er sich nicht, denn dafür hat ihn die Schlussphase zu sehr enttäuscht: 26:16 hatte Magdeburg bereits in der 47. Spielminute geführt. Druckvoll und effektiv wurde das Offensivspiel gestaltet. Karol Bielecki (8 Tore) und Renato Vugrinec (4) im Rückraum, aber auch Stefan Kretzschmar (9) auf Linksaußen hatten sich in Bestform präsentiert. Unterstützt wurden sie in der Defensive vom hervorragenden Mittelblock, bestehend aus Steffen Stiebler und dem von einer Bandscheibenverletzung genesenen Sigfus Sigurdsson. Das Magdeburger Team konnte seine Baustellen, die sich in dieser Spielzeit Woche für Woche offenbart hatten, für eine knappe Stunde schließen.

Doch mit der Dominanz kehrte die Selbstzufriedenheit zurück ins Spiel. Der Vorsprung schrumpfte, aber bedrohlich wurde es für den SCM nicht mehr. Dafür spielten zu viele Gummersbacher unter ihren Möglichkeiten, allen voran Kyung-Shin Yoon auf halbrechts und Frank von Behren in der Rückraum-Mitte. Sogar in Überzahl kassierten sie 3 Gegentore. „Der SCM war das reifere Team“, sagte Lajos Mocsai, Trainer des VfL.

In Magdeburg rätseln sie derweil, warum Festspiele dieser Art so lange auf sich warten ließen. In der Bundesliga liegt der SCM abgeschlagen auf Platz 3, im DHB-Pokal war schon im Achtelfinale Endstation. „Hätte jeder Spieler immer hundert Prozent gebracht, würden wir wieder oben stehen“, sagte Stefan Kretzschmar. Auch seinem Gesicht war eine halbe Stunde nach dem Spiel nur der dezente Anflug eines Glücksgefühls abzulesen. Denn mit dem beeindruckenden Sieg gegen Gummersbach hat der SCM auch die ernüchternde Erkenntnis gewonnen, dass in dieser Saison weitaus mehr möglich gewesen wäre – hätten Nachwuchskräfte wie Bitter, Bielecki oder Theuerkauf früher ihre Berührungsängste abgelegt.

So freuen sich die Magdeburger auf die Zukunft, zunächst auf das EHF-Pokalfinale. Ende April kann sich der SCM seinen 9. europäischen Titel sichern und zum alleinigen deutschen Rekordhalter aufsteigen. Für das verwöhnte Publikum wäre dieser Titel nichts Neues. Doch die Lehrlinge der Magdeburger Lehranstalt werden das anders sehen. Für sie hat die Entdeckung des Erfolges erst begonnen.