Üppig tanzende Kurven

KÖRPERMASSE Lassen sich normative Schönheitsideale verändern? „Das Glück ist dick!“, ruft eine Ausstellung im Projektraum Arttransponder aus, die wissenschaftliche Erkenntnisse vollmundig mit Kunst verbinden will

Alarm für das Young-Miss-Regime: Mit ein paar Pfunden über dem Idealgewicht ist man im Alter gesünder

VON JAN KEDVES

Der adipöse Körperbau hat Konjunktur. Zumindest in Pop und Mode sieht es so aus, als neige sich die Herrschaft der Kalorienzähler dem Ende zu: Karl Lagerfeld lässt sich mit Beth Ditto fotografieren, der 95 Kilo schweren Frontfrau der amerikanischen Band Gossip; Ditto selbst designt eine Modelinie für ein britisches Übergrößenlabel. Bald wird auch die Berliner Sängerin Miss Platnum ein neues Album auf den Markt bringen. Die Kollegin von Peter Fox ist zwar bei weitem nicht so fett wie Ditto, ging vor zwei Jahren in ihrem Hit „Give Me The Food“ jedoch ähnlich offensiv mit ihrem Plus an Pfunden um wie Letztere.

Sicher könnte man fragen: Wie sähe die Welt aus, gelangten all jene popmusikalischen und tratschmedialen Strategien, Dicksein als schön und cool darzustellen, ans Ziel? Hätten die Dicken dann mehr Spaß am Leben? Oder würden plötzlich auch all die Dünnen anfangen, sich hochzupäppeln – und die gültigen Schönheitsideale sich in ihr normatives Gegenteil verkehren?

„Das Glück ist dick!“, behauptet der Titel einer Ausstellung, die gerade im Projektraum Arttransponder zu sehen ist. Wer bei solch energischem Gestus glaubt, es handele sich um eine Propagandaschau für Fettleibigkeit, wird beim Weiterlesen irritiert: In einer interdisziplinären Forschungsgruppe namens „Präventives Selbst“ arbeiten an der Humboldt Universität seit gut zwei Jahren Ethnologen, Mediziner, Psychologen und Künstler zusammen zum Thema Fettleibigkeit. Ziel des Projekts: eine „vorausschauende, problembewusste, eigenverantwortliche Lebensweise jedes Einzelnen“. Mit der Ausstellung präsentiert die Gruppe ihre wissenschaftlichen und künstlerischen Zwischenergebnisse. Doch wie soll das zusammenpassen: „Prävention“, „Problem“ und diese Glücksbehauptung?

Es passt nicht zusammen – das zeigt die Ausstellung. Einerseits soll hier ein Überblick über den neuesten Forschungsstand zwischen „Metabolischem Syndrom“ und soziokulturellen Faktoren gegeben werden, andererseits soll das Ganze kreativ aufgearbeitet werden. Die jüngsten, für das herrschende McFit- und Young-Miss-Regime wohl alarmierenden Meldungen – etwa, dass Menschen, die ein paar Pfunde über dem liegen, was als Normalgewicht gilt, im Alter gesünder sind als Menschen mit „Idealfigur“ – sollen unter einen Hut gebracht werden mit Kunst, Philosophie und Geschichte.

In Regalen, genannt „Fettes Archiv“, reihen sich also Fotobände von Diane Arbus mit deren bekannten „Freak“-Porträts neben Winfried Menninghaus’ Ästhetikstudie „Ekel“, daneben dicke Ordner mit Fotokopien aus aktueller medizinischer Literatur. Das wirkt auf den ersten Blick profund – und doch wird man den Eindruck nicht los, eine halbstündige Google-Recherche am Heimcomputer hätte ähnlich viel Material in ähnlicher Disparität zutage gebracht.

Ist das „Fette Archiv“ eher Installation als Archiv mit echtem Nutzwert? Dass einer der Ordner mit Fett eingeschmiert ist, deutet darauf hin. Die haptische Erfahrbarmachung der Thematik will jedoch auch nicht unbedingt einleuchten: Fett wird man eben nicht, weil man zu viel Fett isst. Gegen solche Vereinfachungen will sich die Ausstellung ja eigentlich wenden.

Am gelungensten scheint somit das Exponat, das rein über Ästhetisierung und Abstraktion funktioniert – der „künstlerischste“ Beitrag: Anja Sommers Wandarbeit „Wer die Form nicht wahrt“. Man sieht zunächst nur mit weißer Kreide schattierte Scherenschnitte von üppigen Physiognomien. Sie entstanden nach Motiven von Lucien Freud, David LaChapelle, Diane Arbus, Rubens etc. – ein Querschnitt quer durch die Kunstgeschichte. Die Figuren sind auf ihre Silhouette reduziert und anonymisiert, die Gesichter schwarze Flächen. So wird ausgeblendet, ob die Vorlagen ursprünglich in einem humoristischen, melodramatischen oder degoutanten Kontext standen. Und siehe da: Vor dieser Wand mit ihren üppig tanzenden Kurven bekommt der Betrachter unweigerlich gute Laune, ja, er ergänzt den Figuren sogar unweigerlich stolze, lebensfrohe Gesichtsausdrücke.

Solch spontane Konnotationen zu evozieren, statt mit Problematisierung zu arbeiten, ist eine kleine und in diesem Kontext doch wichtige Leistung. Denn in Recherche eintauchen, über die Tücken des Body-Mass-Index diskutieren oder auf einem Flatscreen herumtasten, um zu lernen, was „fett“ auf Türkisch heißt: Das kann man im Grunde auch noch später und woanders.

■ „Das Glück ist dick“. Im Arttransponder, Brunnenstr. 151, Do. 12–17 Uhr, Fr./Sa. 14–19 Uhr, bis 8. August