Tunis am 14. Januar 2011

ARABISCHE KUNST „Meeting Points 6“ im Haus der Kulturen der Welt: Das Festival spürt in den kommenden drei Tagen in Performances, Filmen und Lesungen den Krisen und Umwälzungen in der arabischen Welt nach

Das Festival spürt den zivilgesellschaftlichen Kräften nach, die derzeit überall in der arabischen Welt Umwälzungen herbeiführen

VON JULIA GWENDOLYN SCHNEIDER

In der Ausstellungshalle von Argos in Brüssel steht ein Mann, dessen Kopf unkontrolliert hin- und herwackelt. Er geht umher und hält immer wieder kopfschüttelnd an, wie ein Tier im Käfig, das auf und ab läuft und von unruhigen Zuckungen heimgesucht wird. Dazu erklingen theatralische Musik und laute arabische Stimmen. Die Atmosphäre wirkt angespannt und rauschhaft zugleich. Der Tänzer Rabhouane El Meddeb steht zunehmend unter Strom, die Geräuschkulisse wird immer gewaltiger. Sein nervöser Zustand breitet sich auf den restlichen Körper aus, erreicht einen Höhepunkt. Dann aber macht El Meddeb gänzlich unerwartet ein strahlendes Gesicht. Die Stimmung kippt in Jubel und Freude.

„Tunis le 14 Janvier 2011“ heißt Rabhouane El Meddebs eindrucksvolles Solo. Auch in der Berliner Ausgabe des Festivals „Meeting Points 6“ wird es zu sehen sein. Darin drückt El Meddeb, der als Choreograf in Paris lebt, seine „positive Frustration“ über die Revolution in seiner Heimat aus – die Unmöglichkeit, seine Landsleute zu begleiten, die Freude über die Umwälzungen. Der Audiopart für das Stück kommt aus einem YouTube-Video, in dem ein Tunesier seinen Dank an alle herausschreit, die dem ehemaligen Präsidenten Widerstand geleistet haben.

Das im April 2011 in Beirut und Amman eröffnete Festival „Meeting Points 6“ gastiert nun nach Brüssel in Berlin im Haus der Kulturen der Welt. Weitere Etappen sind in Kairo, Tunis und Athen geplant, während Damaskus wegen der angespannten Lage abgesagt werden musste. Für Tarek Abou El Fetouh vom Young Arab Theatre Fund in Brüssel, der „Meeting Points“ ins Leben gerufen hat, bildet die zeitgenössische Praxis arabischer Künstler und deren Vernetzung zwar den Ausgangspunkt für das multidisziplinäre Projekt, aber auch Stimmen aus anderen Orten sind angeschlossen. „Ich möchte einen transnationalen Diskurs über Themen der Region führen“, sagt er im Gespräch in Brüssel. Okwui Enwezor hat er als künstlerischen Leiter für die 6. Edition beauftragt.

Als Enwezor 2009 seine Recherche begann, konnte er kaum ahnen, was 2011 geschehen würde. Trotzdem scheint es, als seien die Zeichen der Zeit bereits ablesbar gewesen. „Ich habe Beirut, Damaskus, Amman, Ramallah, Tunis und Kairo besucht und bin an all diesen Orten einem bestimmten Phänomen begegnet: einem unglaublich vitalen zivilgesellschaftlichen Dialog.“ Das Festival trägt dieser Beobachtung Rechnung, indem es in Performances, Filmen, Lesungen den zivilgesellschaftlichen Kräften nachspürt, die derzeit in der arabischen Welt Umwälzungen herbeiführen.

Im Unterschied zu Brüssel gehört zu „MP6“ in Berlin eine vielschichtige Debatte, die mit Teilnehmerinnen wie der Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, der Autorin Adhaf Soueif und der Künstlerin Mona Hatoum sicherlich interessant wird. Im Gegenzug entfällt leider die Brüsseler Ausstellung. Einzig Dokumentationen von Mona Hatoums Performances aus den 1980er Jahren werden weiterhin gezeigt. Sie bilden den mutigen und experimentellen Anfang ihrer Laufbahn. Dazu zählt auch „The Negotiating Table“ von 1983, eine Performance, die nun wieder aufgeführt wird. Es zeigt sich, dass sie in erschreckender Weise weiterhin brisant ist.

Fast vollständig in Mullbinden gewickelt, durch die stellenweise Blut hervorquillt, liegt eine Frau zur Gänze in einen durchsichtigen Beutel verpackt wie tot auf einem Tisch. Zum Glück atmet sie noch, doch wie lange? Die Stühle um sie herum bleiben unbesetzt, während Kriegsmeldungen und Führeransprachen gelegentlich die Stille brechen. Die Performance war ursprünglich als eine Antwort auf die israelische Invasion von 1982 im Libanon gedacht. Heute setzt man die Frau in Beziehung zu den Toten im Kampf um die Demokratie in der arabischen Welt.

Die Überzeugung, dass Kunst nicht im gesellschaftlichen Vakuum entsteht, ist für die ausgewählten Beiträge zentral. Omar Abusaadas Lesestück etwa nimmt direkt Bezug auf die syrische Revolution. Am nationalen Unabhängigkeitstag arbeitet Reem emsig an einem Theatertext, der die Freiheit loben soll. Doch wie kann diese aussehen, wenn auf Facebook ständig neue Horrormeldungen von jungen Syrern erscheinen? Reems Worte fürs Theater passen nicht zur Realität. Die Sackgasse, in die ihr Text zunehmend gerät, drückt treffend die Ohnmacht gegenüber den politischen Ereignissen aus.

■ „Meeting Point 6: Contemporary Art Festival from the Arab World“. Haus der Kulturen der Welt, 12. bis 14. Januar