TANIA MARTINI LEUCHTEN DER MENSCHHEIT: Schopenhauer, der alte Geizkragen
Eine beliebte moralische Übung ist es, Leben und Werk von AutorInnen gegeneinander zu lesen und abzugleichen. Der Nutzen eines solchen Unterfangens ist völlig unklar. Was zum Beispiel kümmert es, ob Zarathustra in Sils-Maria oder woanders an Nietzsche vorbeispazierte. Ist es etwa für den Gedanken der ewigen Wiederkunft bedeutend, dass er 6.000 Fuß über dem Meer entstanden ist?
Andererseits gibt es ja schöne Beispiele für in konkrete Lebenspraxis übersetzte Ideen. Die Existenzform der Kyniker etwa, die alle Konventionen ablehnten und die Satire und Provokation der Belehrung vorzogen. Die Herstellung eines bestimmten Ethos ist hier das Thema. Oder nehmen wir die politisch-künstlerischen Avantgarden, die Kunst und Politik ins Leben überführen wollten – da ging’s auch um eine veränderte Alltagspraxis, und es kam Schönes zwischen Saufen und Umherschweifen heraus. Das will man gerne wissen.
Kürzlich las ich das biografische Vorwort zu der aus Schopenhauer-Texten kompilierten Anthologie „Die Kunst, am Leben zu bleiben“ (C.H. Beck 2011) und mein Interesse an Schopenhauers Werk war für immer dahin. Plötzlich erschien mir alles, was ich je von ihm gelesen hatte, als lebensfernes Grauen eines pathologisch bösartigen, leidenschaftslosen Mannes, den selbst die eigene Mutter als lebensaustreibend empfand. Die Sorge um sein Erbe war größer als die um seine sozialen Beziehungen. Das verraten seine Briefwechsel. Seine Zeitgenossen beschrieben ihn als „komisch-mürrisch, aber eigentlich harmlos, gutmütig-unwirsch“. Die Langeweile verabscheute er nicht etwa aufgrund der Leere, sondern weil sie die „Quelle der Geselligkeit“ sei.
Für immer werde ich seine Texte, seine drastische Negation nun bloß mit Geiz und Argwohn assoziieren. Und das will man doch nicht. So wie man ja auch nicht wissen will, dass Adorno einen Adelstick hatte. Weil man dann doch ständig beim Lesen der „Ästhetischen Theorie“ an den Guttenberg denkt. Nein, das will man wirklich nicht.
■ Die Autorin ist Redakteurin für das Politische Buch Foto: privat
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