Immer mehr Menschen seelisch krank

Seit 1997 ist die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Probleme um 70 Prozent gestiegen. Eine DAK-Studie macht den steigenden Leistungsdruck dafür verantwortlich – aber nicht nur: Der Weg auf die Couch fällt inzwischen auch leichter

VON SASCHA TEGTMEIER

Die Deutschen lassen sich immer weniger krank schreiben, aber immer öfter aus psychischen Gründen. Auslöser dieses Trends könnte die Krise auf dem Arbeitsmarkt sein – zu diesem Ergebnis kommt der Gesundheitsreport 2005, den die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) gestern vorstellte.

Auf der einen Seite sank der Krankenstand bei der DAK im vergangenen Jahr um zehn Prozent. Neben der Praxisgebühr liege das an der Angst vor dem Arbeitsplatzverlust, sagte DAK-Chef Herbert Rebscher. Auffällig sei jedoch der Anstieg der psychischen Erkrankungen. Krankmeldungen etwa wegen Depressionen oder Angstzuständen schnellten laut der Studie seit 1997 um 70 Prozent in die Höhe. So geht heute jeder zehnte Fehltag auf das Konto von psychischen Problemen. Damit sind diese Erkrankungen inzwischen der vierthäufigste Grund für Krankschreibungen und haben sogar die weit verbreiteten Kreislauferkrankungen überholt.

DAK-Chef Rebscher machte dafür den „Wandel der modernen Arbeitswelt“ verantwortlich. In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit könnten „Zeitdruck, sich ständig ändernde Anforderungen, Arbeitsverdichtung und die Unsicherheit über die eigene Zukunft“ die Ursache für die Zunahme von Depressionen und Ängsten sein, so Rebscher.

Hans-Dieter Nolting vom Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES), das die DAK-Studie erstellt hat, vermutet, dass die Menschen heute in der Tat psychisch labiler sind als früher. Darüber hinaus gebe es für sie im zunehmend leistungsorientierten Berufsleben weniger Chancen, vorübergehende psychische Probleme abzufangen, so Nolting. Wer aufgrund einer Depression antriebslos sei, könne es sich nicht leisten, zu Hause zu bleiben. Deshalb würden Krankheiten häufiger verschleppt.

Auf den Druck im Beruf reagieren laut der DAK-Studie besonders junge Menschen mit seelischen Problemen. So haben sich die psychischen Krankheitsfälle bei Männern im Alter zwischen 25 und 29 Jahren und Frauen zwischen 20 und 24 Jahren mehr als verdoppelt. Doch auch ältere Menschen sind betroffen. Jeder dritte Frührentner hat eine psychische Krankheit auf seinem Rentenantrag stehen. Vor gut zehn Jahren waren es erst 18 Prozent.

Aus den Zahlen der DAK geht zudem hervor, dass mehr Frauen sich aus psychischen Gründen krank melden als Männer. „Männer verleugnen solche Krankheiten“, sagte Nolting dazu. Frauen würden eher professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

Ein Faktor für den gesamten Anstieg der psychischen Erkrankungen in der DAK-Statistik ist jedoch auch, dass sie besser erkannt werden als noch vor einigen Jahren. „Früher wurden dann Schlafstörungen und Rückenschmerzen behandelt“, sagte Hans-Dieter Nolting. Zudem seien psychische Krankheiten weniger tabuisiert, der Gang zum Arzt falle daher leichter.

Dafür spricht auch die IGES-Umfrage unter 1.000 DAK-Versicherten. Immerhin zwei Drittel können sich demnach vorstellen, wegen eines psychischen Leidens zum Therapeuten zu gehen. Andererseits glaubt allerdings mehr als ein Viertel der Befragten, dass psychische Erkrankungen als Vorwand für „Blaumacherei“ missbraucht würden.

Besonders von den Psycho-Leiden betroffen sind das Gesundheitswesen und die öffentliche Verwaltung auf. Nolting vermutet allerdings, dass es einen anderen heimlichen Tabellenführer gibt. Denn die Statistik erfasse nur die Erwerbstätigen. Arbeitslose litten wahrscheinlich noch wesentlich häufiger an psychischen Erkrankungen.