Als Kafka lachte

DOKUMENTE Das Literarische Colloquium Berlin hat ein Onlineportal aktiviert, auf dem es Lesungsmitschnitte aus 20 Jahren bereitstellt

Hans Werner Richter habe seinerzeit Paul Celans Lesart nicht aus antisemitischen Gründen als die eines „Rabbi“ bezeichnet, sondern weil er eifersüchtig gewesen sei

VON LISA FORSTER

In seiner Biografie über Franz Kafka erwähnt Max Brod einen interessanten Aspekt über den Tag, als Kafka seinen Freunden aus seinem neuen Text „Der Prozess“ vorlesen wollte. Er lachte dabei „so sehr, dass er weilchenweise nicht weiterlesen konnte“. Schade ist, dass von diesem Ereignis zwar eine mündliche Überlieferung existiert, jedoch keine Tonaufnahme, die diese ungewöhnliche Lesart festhielt. Während, was Kafka betrifft, diese Möglichkeit wohl verloren ist, ist es dank dem vom Literarischen Colloquium Berlin (LCB) initiierten Onlineportal www.lesungen.net bald möglich, anderen Schriftstellern und Schriftstellerinnen wie Anthony Burgess oder Christa Wolf beim Lesen ihrer Texte zuzuhören.

Das LCB stellt bereits seit September vergangenen Jahres literarische Veranstaltungen online, die im Haus stattgefunden haben. Die frühesten Mitschnitte stammen aus den 1980er Jahren, insgesamt sind etwa 630 Tonträger mit Mitschnitten von Lesungen und Diskussionsrunden entstanden, die im hauseigenen Archiv lagern. Inzwischen sind bereits 140 digitalisierte Veranstaltungen aus den letzten 20 Jahren auf der Homepage verfügbar – so die Sendungen des Studio LCB und Veranstaltungen des Kooperationspartners vom Literaturhaus Basel. Mit der kostenlosen Veröffentlichung dieser Mitschnitte bietet das LCB Möglichkeiten eines neuen Zugangs zu vielen Höhepunkten der jüngeren deutschen Literaturgeschichte, die dort vorgelesen werden.

Darin werden die Zuhörer zwar selten auf spontane Lachausbrüche stoßen, stattdessen aber auf andere sinnliche Literaturerfahrungen. Bemerkenswert ist beispielsweise eine Veranstaltung mit Ilse Aichinger von 1996. Die damals 74-Jährige liest aus einem nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichten „Aufruf zum Misstrauen“ vor, auf dem die Jahre liegen wie auf ihrer brüchigen Stimme. Ihre Sätze sind zitternd und stocken manchmal, die Worte wirken unsicher und gepresst. Das ist eine Stimmung, die sich auch auf die Zuhörerin überträgt – es ist ein Text, der eher die Rezipientin bewältigt als diese ihn.

Anders gestaltet sich die Hörerfahrung bei einem Vorleser wie Günter Grass, dessen versierter Umgang mit Tonhöhen und Lautstärke schon auf mehreren Hörbüchern festgehalten wurde. Seine vorgetragenen Auszüge aus „Die Blechtrommel“ und „Unkenrufe“ werden bei manchen den Gedanken hervorrufen, Grass hätte alle seine Texte im Sinne eines archaischen Leseerlebnisses nicht schriftlich, sondern mündlich vortragen sollen. Ein Gespräch mit Milo Dor bringt Worte „aus einer Welt, die es nicht mehr gibt“, wie die Moderatorin Maike Albath es formuliert. Dem Sohn eines serbischen Arztes, der im Banat aufwuchs, kann man die Fremde zur deutschen Sprache anhören. Er selbst attestiert diese Eigenschaft im Gespräch auch der Sprache Paul Celans, der 1967 eine Lesung im LCB gab und seine „barocken“ Texte, die man „singen“ musste, vortrug.

Abgesehen von den vorgelesenen Texten diskutieren die einzelnen Autoren auch über die Entstehungsbedingungen ihrer Literatur. So liest beispielsweise der Autor Lutz Seiler nicht nur aus seinem Erzählband „Die Zeitwaage“ vor, sondern spricht mit seinen Diskussionspartnern über seine Erfahrungen in der DDR. Milo Dor wiederum bedient auch das Bedürfnis mancher Hörer nach literarischen Anekdoten, wenn er dazu aufgefordert wird, über seine Erfahrungen in der Gruppe 47 zu erzählen. So habe Hans Werner Richter seinerzeit Paul Celans Lesart nicht aus antisemitischen Gründen als die eines „Rabbi“ bezeichnet, sondern weil er „ganz einfach eifersüchtig“ auf dessen Liebe zu Ingeborg Bachmann gewesen sei. Diese habe hingegen Dor selbst einen Heiratsantrag gemacht, weil sie „einfach wegwollte“.

Bachmann war es auch, die in einem Essay über die „Eigentümlichkeit einer Stimme, die so und so beschaffen ist“, schrieb und damit wieder an die Besonderheit der akustischen Erfahrung eines Textes erinnert. Durchsucht man das Programmarchiv des LCB, findet man viele weitere Literaten, deren persönliche Lesart hörenswert erscheint – so etwa Lesungen von Michel Houellebecq, Harry Mulisch, Czeslaw Milosz, Haruki Murakami, Alexander Kluge und viele andere. Leider sind diese älteren Veranstaltungen online noch nicht abrufbar, obwohl sie bereits digitalisiert wurden. Das liegt daran, dass für jede Sendung von allen Beteiligten die Zustimmung zur Veröffentlichung eingeholt werden muss. Die Mühen, die das bereitet, lassen sich erahnen. Es bleibt zu hoffen, dass das LCB genügend Fördermittel findet, um nicht aufzuhören, bevor die letzte Sendung als Podcast abrufbar ist. Auch wenn sie den Hörern damit zwar keinen kichernden Kafka bieten können, bergen sie in ihren Archiven zu viele andere literarische Stimmen, die auf keinem Fall verstummen sollten.