Kindheit im Weltkrieg schafft neues Gedächtnis

Essener Studiengruppe befasst sich mit einer vernachlässigten Gruppe der Geschichte: Die Kinder des zweiten Weltkrieges. Die heute 60- bis 70-Jährigen sollen ein neues kulturelles Kriegsgedächtnis schaffen und über ihre Erfahrungen von Vertreibung, Bomben und zerstörten Familien

Bei Guido Knopp kommen sie alle zu Wort. Hitlers Sekretärinnen, Fahrer, Köche. Auch Führungskräfte aus Wirtschaft und Wehrmacht legen Zeugnis ab. Von der großen Masse der Zivilbevölkerung zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs ist dagegen eher wenig zu hören. Der inzwischen in die Jahre gekommenen Generation der Kinder der Kriegs- und Nachkriegszeit nimmt sich jetzt die neue Studiengruppe „Kindheit im 2. Weltkrieg“ unter Leitung von Jürgen Zinnecker am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen an.

Die historische Erfahrung des Weltkriegs spielt eine zentrale Rolle in der Erinnerungskultur aller davon betroffenen Länder. Mehr als in vorangegangenen Kriegen – zumindest seit dem 30jährigen Krieg – waren im Verlauf der zehn Kriegs- und Nachkriegsjahre zwischen 1939 und 1949 große Teile der zivilen Bevölkerung auf direkte oder indirekte Weise von diesem welthistorischen Ereignis betroffen.

Die Kriegskinder wurden unfreiwillig in kriegerische Handlungen verwickelt, wurden zu Opfern von Kriegs- und Verfolgungsterror. Sie mussten die Bombardierung von Städten bis hin zum verordneten Genozid mit erleben, wurden evakuiert, ausgesiedelt, deportiert oder verschleppt und mussten schließlich bei Kriegsende Versorgungskrisen aushalten und die Wiedererrichtung von Wirtschaft, Kommunen und Familien tragen. Im Vergleich zu diesen lang anhaltenden Verwicklungen der Zivilbevölkerung in die Kriegsgeschehnisse erscheinen deren vielfältige Erfahrungen in der offiziellen Erinnerungskultur bislang ausgesprochen unterrepräsentiert.

Sechs Jahrzehnte nach Kriegsende sind mittlerweile die damals Jüngsten in der Zivilbevölkerung in das Ruhestandsalter vorgerückt. Für die in der KWI- Studiengruppe tätigen Wissenschaftler handelt es sich im Kern um die Jahrgänge der zwischen 1930 und 1940 Geborenen, die als Kinder in die Katastrophe hineingezogen wurden, und die gegenwärtig zwischen Mitte 60 und Mitte 70 Jahre alt sind.

Die Forscher haben aus diesem Grund und aus Anlass der 60. Wiederkehr des Kriegsendes die Erfahrungen und Erinnerungen dieser letzten noch verbleibenden Kriegsgeneration zum Thema des wissenschaftlichen und politisch-kulturellen Diskurses gemacht. Das Projekt soll dazu beitragen, die Summe der Erfahrungen dieser Menschen in das kollektive „kulturelle Kriegsgedächtnis“, in die öffentlichen Diskurse der am Krieg beteiligten und vom Krieg betroffenen Länder zu reintegrieren.

Die Studiengruppe möchte das Thema nicht auf die unmittelbaren Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre und damit auf die Jahre der Kindheit beschränkt wissen. Es geht ebenso um die vielfältigen Bedeutungen, welche die Erfahrung von „Kriegskindheit“ für die weitere individuelle Lebensgeschichte der Betroffenen und die ihrer ganzen Generation angenommen hat. Hier möchte man Anregungen aufgreifen und fortführen, die aus Kreisen der Gerontologie, der Entwicklungspsychologie des Lebenslaufs und der Psychotherapie erwachsen sind, und in denen es um Langzeitfolgen von Kriegskindheiten geht, die erst im Prozess des Alterns dieser Generation sichtbar werden, sprich in der gegenwärtigen medizinisch-therapeutischen Praxis.

Eine weitere Forschungsfrage bezieht sich auf die Geschichte der Mentalitäten und politischen Kulturen in den vom Weltkrieg betroffenen nationalen Gesellschaften. Wie haben sich deren demokratische Kulturen nach dem Erlebten entwickelt, welchen Einfluss hatten die Kriegserfahrungen auf die Ost-West-Konfrontation, und wie verlief vor diesem Hintergrund die Restaurierung von Wirtschaft, Familie, Kirche, Bildung und der darauf bezogenen kollektiv geteilten Wertvorstellungen und Moralsysteme?

Bücher sollen aus dem Forschungsprojekt entstehen, eine Broschürenreihe und ein Internet-Auftritt. Am kommenden Montag um 18.15 Uhr spricht Emmy Werner von der University of California im KWI zum Thema Kriegskinder – die ‚unschuldigen Zeugen‘. Unter Leitung von Jürgen Zinnecker findet ebenfalls am Montag und Dienstag nächster Woche im KWI ein Workshop unter dem Titel „Kriegskindheiten ohne lebensgeschichtliche Folgen?“ statt.

HOLGER ELFESwww.kwi-essen.de.