Jesus muss den Blumenbeeten weichen

Die Stadt München lässt eine Bauwagensiedlung räumen. Dabei haben hier Menschen wie der Obdachlose „Jesus“ eine neue Heimat gefunden. Bisher hat das niemanden gestört. Nun aber liegt die Anlage im Blickfeld der Bundesgartenschau-Besucher

AUS MÜNCHENJÖRG SCHALLENBERG

Selbst Jesus trinkt an diesem Morgen Bier. Schon um acht Uhr, und es ist nicht sein erstes. Dabei hat „Jesus“, so der Spitzname von Peter Kranawetvogl, sonst immer ein Auge darauf, dass hier in der Bauwagensiedlung am östlichen Stadtrand von München das selbst verordnete Trunkenheitsverbot strikt eingehalten wird. Wer sich daran nicht hält, muss gehen. Aber heute ist das egal, es müssen sowieso alle weg.

Denn an der Zufahrt zum „Gnadenacker“, wie die knapp 30 Bewohner ihr Gelände nennen, stehen Beamte der Lokalbaukommission München-Ost, die kein Bier, sondern einen Räumungsbescheid in Händen halten. Eine Abordnung Möbelpacker samt Lkw haben sie gleich mitgebracht. Um Punkt acht Uhr sollte die Siedlung geräumt werden, doch nun stehen alle etwas unschlüssig herum.

Denn in der Nacht haben rund 20 Unterstützer eine Barrikade aus Holzpaletten und Reifen errichtet. Ein paar Meter weiter haben die Bewohner mit einem provisorischen Holztor den Weg versperrt. Als Verhandlungen nichts fruchten, rückt unverzüglich eine Hundertschaft der Polizei an. Eine Eskalation droht.

Mittendrin, zwischen Uniformierten, Anzugträgern, schwarzgewandeten Unterstützern und den eher bunt gekleideten Bewohnern, steht Bernhard Fricke und schüttelt den Kopf – als könne er nicht fassen, was gerade passiert. Fricke, früher im Münchner Stadtrat, ist der Anwalt von „Jesus“ und den anderen. Er sagt: „Man zerstört hier eine Lebensform, die niemanden gestört hat.“ Wenn man mal von der Stadt München absieht.

Seit 1998 bereits besteht die Bauwagensiedlung zwischen dem Messegelände in München-Riem und dem Örtchen Salmdorf. In 27 Bauwagen leben einstige Obdachlose, Alkoholabhängige, Ex-Junkies. Sie haben sich in einem ordentlich eingetragenen Verein namens „Die Ameise“ organisiert und wohnen mit Unterstützung der Besitzerin auf einem privaten Grundstück. Für das Zusammenleben gelten im Hinblick auf Alkohol, Gewalt und Drogen strenge Regeln. Ein gewählter Vorstand, dem Peter Kranawetvogl – wegen seiner eifrigen Beschäftigung mit der Bibel Jesus genannt – vorsitzt, kümmert sich um die Organisation der Siedlung. Manche Bewohner arbeiten für die Obdachlosenzeitung Biss, andere haben Jobs auf dem Messegelände.

Von Beschwerden der Anwohner in den vergangenen Jahren ist nichts bekannt. Obwohl ein Wasseranschluss fehlt, wirkt das Gelände weder verdreckt noch verwahrlost. Als Vorzeigebeispiel für Hilfe zur Selbsthilfe würde es sich gut machen.

Dennoch hat die Stadt München mit allen im Stadtrat vertretenen Parteien – auch den Grünen – die Räumung durchgesetzt. Begründet wurde das mit dem Baurecht. In einer vom Planungsreferat verteilten Pressemitteilung liest sich das so: „Das Grundstück ist (…) als öffentliche Grünfläche festgesetzt, die landschaftsgerecht gestaltet werden muss.“

Ein offensichtlicher Grund für den Räumungstermin wird dagegen offiziell stets bestritten: Am 28. April eröffnet auf der Münchner Messe die Bundesgartenschau, und der „Gnadenacker“ grenzt an einen Besucherhügel.

Die Räumung geht am Ende friedlich vonstatten. Peter Kranawetvogl redet auf die Unterstützer ein, lässt die Hunde anleinen und schiebt wutentbrannte Bewohner eigenhändig beiseite. Dann rücken die Möbelpacker an. Resignation macht sich breit, viele der Bewohner verlieren nun nach Jahren erneut ihr Obdach. Die Stadt hat ihnen ein paar Holzhütten als Ersatzquartier angeboten, doch dort will niemand hin. Anwalt Fricke kommentiert bitter: „Das ist der Rückfall. Jetzt bricht die Struktur zusammen, die sie sich hier aufgebaut haben.“ Anders formuliert: Für einen ordentlichen Grünstreifen zerstört man in einer Weltstadt mit Herz schon mal ein paar mühsam neu errichtete Existenzen.