Rechts vor links

Stephan Braun gilt in Baden-Württemberg als der politische Experte in Sachen Rechtsextremismus. Und so verfolgt der langjährige Landtagsabgeordnete die Entwicklungen rund um die NSU und ihre Ausläufer nach Stuttgart mit großem Interesse. Ein Gipfelgespräch zwischen dem Denkmal am Stuttgarter Nordbahnhof und einer Kanzlei in der Werastraße, die durch Kontakte mit der Neonazi- szene von sich reden gemacht hat

Das Gespräch führten Susanne Stiefel und Meinrad Heck

Herr Braun, wir sind hier an einem Ort, der an ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte erinnert: an die nationalsozialistische Vergangenheit. Wie wichtig sind solche Orte heute?

Die Schienen und Rampen und die Gedenktafel mit den Opfern hier am Stuttgarter Nordbahnhof lassen die damalige Zeit lebendig werden. Von hier aus sind die Stuttgarter Juden und Sinti und Roma in die KZs der Nazis transportiert worden. Ich bin zum ersten Mal an diesem Ort. Er berührt mich tief.

Inge Auerbacher ist eine der wenigen Überlebenden dieser Stuttgarter Transporte. Das Gedicht „Ich bin ein Stern“ ist ihre Aufarbeitung des Grauens der Nazizeit.

Unsere deutsche Geschichte ist belastet durch Völkermord, durch grausame Verfolgung, Erniedrigung und planmäßige, ja industrielle Vernichtung von Menschen. Der Juden zuerst, der Sinti und Roma, Kommunisten, Gewerkschaftler und Sozialdemokraten, Homosexuellen, um nur einige zu nennen. Wir brauchen Orte des Erinnerns wie diesen, um uns immer wieder selbst zu vergewissern: Wo stehen wir heute? Wie gehen wir miteinander um? Wo holen wir unsere Kraft her, wenn es gilt, sich zu widersetzen, wenn die Freiheit in Gefahr ist, die Würde von Menschen bedroht … Wenn ich dieses Gedicht von Inge Auerbacher lese, dann schwingt da bei aller Grausamkeit der Zeit auch eine bewundernswert große Kraft und Zuversicht mit.

das Gedicht endet mit „Niemand wird meine Seele zerbrechen“ …

Ja, diese Kraft meine ich. Diese Identifikation mit dem Judentum und der eigenen Geschichte. Das sind ihre Wurzeln und ihre Kraftquellen, um nicht nur physisch, sondern auch psychisch zu überleben. Wir brauchen solche Orte. Aus Respekt den Opfern gegenüber. Aber auch weil wir wissen: Wer die Vergangenheit wegblendet, ist gezwungen, Geschichte zu wiederholen. Und das wollen wir auf keinen Fall. Wir haben mit dem Grundgesetz ein Gegenmodell entwickelt zu dem, was die Nazis damals angerichtet haben. Solche Mahnmale sollten Orte der Begegnung, der Besinnung, des Forschens und der Selbstvergewisserung sein. Etwa bei der Frage, wie weit die Grundlagen, die wir uns als Gesellschaft gegeben haben, sicher sind oder wo sie vielleicht brüchig zu werden drohen.

Ist so ein Ort für Sie auch Motivation, weiterzumachen in Ihrem Kampf gegen neonazistische Bewegungen?

Ja. Ein Ort, an dem man sich und anderen verspricht, weiterzumachen und den Anfängen zu wehren.

Für die SPD sind Sie 15 Jahre lang im Landtag gesessen und haben sich da nicht unbedingt beliebt gemacht. Sie haben keine Ruhe gegeben: Junge Freiheit, Neonazis, Weikersheim – vor Ihnen war kein Rechter sicher. Aber ganz unter uns: Mit diesem Thema macht man doch keine Karriere in der Politik, Herr Braun!

Wer nur an seine Karriere denkt, bewegt politisch nichts. Ich habe in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus früh gelernt, politisch zu denken, und war mit der evangelischen Jugend in Dachau. Dazu kommt, dass ich in einem Pfarrhaus groß geworden bin, in dem Menschen unterschiedlichster Kulturen und Religionen zu Gast waren, mein Großvater Jude war … Da schaut man bei solchen Entwicklungen vielleicht ein wenig genauer hin.

Wie hat Ihr Großvater den Nationalsozialismus überstanden?

Ich habe ihn nicht mehr kennengelernt, er ist Jahre vor meiner Geburt gestorben. Wir haben auch nie viel über ihn gesprochen. Was viel entscheidender für mein Engagement wurde, war die Asyldiskussion. Ich habe erlebt, wie uns das Thema in Wahlkämpfen um die Ohren gehauen wurde, durchaus auch von der CDU befeuert. Wie Heime brannten und Wahlbezirke zu den Republikanern gekippt sind. Wie es häufig nur bei Betroffenheitsbekundungen blieb und das Grundrecht auf Asyl eingeschränkt wurde. Ein Thema, das nicht zuallererst an den Stammtischen, sondern an den Universitäten entstand. Da konnte man erleben, was es heißt, wenn Forscher sagen, rechtsradikale bis rechtsextremistische Einstellungen sind kein Randphänomen. Die Anfälligkeit gibt es in allen Altersgruppen, allen sozialen Schichten und unter allen Bildungsgraden. Da muss man genauer hinsehen, nicht nur auf Parteien wie Republikaner und NPD und deren Wahlergebnisse achten. Da muss auch die Zivilgesellschaft Farbe bekennen. Und auch ich habe versucht, im Parlament etwas tiefer zu schürfen.

Sie haben Farbe bekannt. Etwa, als Sie darauf drangen, dass dem rechten Barden Frank Rennicke die Konten bei der LBBW gesperrt wurden. Wurden Sie bedroht aus der rechten Szene?

Das bleibt nicht aus, das wissen alle, die sich mit Rechtsextremismus konkret beschäftigen und es nicht nur bei Betroffenheitserklärungen bewenden lassen. Aber wie kann ich von anderen Zivilcourage verlangen, wenn ich sie nicht selbst lebe? Das ist nicht vergnügungssteuerpflichtig, aber da muss man durch. Da kann und darf man sich nicht wegducken. Weder der Einzelne noch die Gesellschaft, noch die Politik.

Der Landtag, wir können ihn von hier aus nur erahnen an der anderen Seite des Schlossgartens. Seit dieser Legislaturperiode sind Sie wieder in der Pressestelle der evangelischen Landeskirche, dort im Landtag haben Sie sich jahrelang engagiert für den Kampf gegen Rechtsextremismus. Ihre Bilanz?

Als ich in den Ausschüssen für Inneres, Recht und Verfassung Verantwortung für den Bereich Extremismus übernahm, wurde mir schnell klar, dass das Thema Rechtsextremismus mehr und sorgfältiger bearbeitet gehört. Und je mehr ich mich damit beschäftigt habe, umso mehr habe ich gemerkt, dass da viele nicht ranwollen. Wir haben das vor einer Debatte mal ausgerechnet und festgestellt, dass wir etwa das Zehnfache an Anträgen zum Thema Rechtsextremismus gestellt haben wie die Union zum Thema Extremismus insgesamt. Von meiner Fraktion habe ich in diesem Punkt immer Unterstützung bekommen. Das war in anderen Punkten nicht immer der Fall.

Sie meinen, in Bezug auf Stuttgart 21, ein Projekt, bei dem die SPD tief gespalten ist. Wie passend, wir gehen gerade am Gelände um die neue Stadtbücherei vorbei.

Ich war der Erste, der aus der Fraktion öffentlich die Volksabstimmung zu S 21 gefordert hat. Da war die Freude anfangs nicht eben überbordend. Aber in meinem Engagement gegen rechts hatte ich von meiner Fraktion immer Unterstützung. Und als ich als Nichtjurist mit der rechten Postille Junge Freiheit in den Clinch ging, auch juristische Unterstützung. Dass Ute Vogt und ich das Buch „Die Wochenzeitung Junge Freiheit“ zusammen herausgebracht haben, finde ich ebenso ein deutliches Zeichen. Ich kann mich an diesem Punkt über meine Partei nicht beklagen.

Und die Christdemokraten?

Als aufrechte Demokraten waren sie immer mit dabei, wenn es darum ging, Betroffenheit zu äußern. Das war auch sicher immer ernst gemeint. Aber wenn man fragt, wo fängt Rechtsextremismus an und was kann man dagegen tun, ist mit der Gemeinsamkeit schnell Schluss. Anfangs waren gar manche CDU-Kollegen der Meinung, wer sich um Rechtsextremismus kümmert, muss ein verdammt linker Hund sein. Das ist so ein Klischee. Dass sie bei der Frage Studienzentrum Weikersheim …

eine rechtskonservative Denkfabrik des früheren Landesvaters Hans Filbinger, in der jeder CDU-Ministerpräsident qua Amt Mitglied war …

… empfindlich reagierten, kann ich verstehen. Da haben sie ja manchem extrem Rechten immer wieder eine Bühne geboten und somit als Brücke zwischen Konservativismus und dem rechten Rand gedient. Dass alle Ministerpräsidenten von Filbinger bis Oettinger dem Zentrum als Mitglied angehört haben – Sie sagten es bereits –, ist ein besonders trauriges Kapitel.

Sie haben die Republikaner mitgekriegt im Landtag. Es wurde gemunkelt, dass Erwin Teufel von den Reps als Ministerpräsident mitgewählt wurde.

Diese Spekulation ist müßig, die Wahl des Ministerpräsidenten im Landtag ist eine geheime Wahl. Aber als ich im Petitionsausschuss saß, fiel mir auf, dass die Übereinstimung im Bereich Asyl und Ausländerrecht schon groß war. Das wurde auch immer wieder im Abstimmungsverhalten deutlich und ist schon etwas, was schmerzt.

Wir sind langsam in der Gegenwart angekommen und stehen vor einer Anwaltskanzlei in der Werastraße, die bekannt für ihre im doppelten Sinn des Wortes Rechtstendenzen war. Über den juristischen Rechtsweg werden heute immer noch viele Veranstaltungen von Neonazis ermöglicht. Gäbe es dagegen ein Mittel?

Das ist natürlich schwierig in einer freiheitlichen Gesellschaft. Das Versammlungsrecht gilt in der Demokratie grundsätzlich erst mal für alle. Unabhängig ob man weiter links oder rechts steht. Und das finde ich gut. Ich tue mich sehr schwer, Freiheitsrechte und Grundrechte einzuschränken, und meine, da muss es schon sehr gute Gründe geben, wenn man das tun will. Viel wichtiger erscheint mir, die Zivilgesellschaft zu wecken und zu mobilisieren. Dass es eben Bündnisse gibt, die sich zusammenschließen und sagen, wir zeigen, dass wir damit nicht einverstanden sind. Wir haben ein anderes Menschenbild, wir haben ein anderes Gesellschaftsbild, wir haben uns andere Grundlagen gegeben, wie wir zusammenleben wollen. Dass bei einer Genehmigung von Veranstaltungen der Neonazis aber immer auch eine juristische Güterabwägung erfolgen und die Sicherheitsfrage bedacht werden muss, ist klar.

Sind juristische Instrumente also die falschen?

Nö, man muss die anwenden, die man hat. Ich glaube, die reichen aus.

Zum Beispiel das NPD-Verbotsverfahren?

Ich stehe zum NPD-Verbotsverfahren, auch wenn ich meine, dass es vollkommen naiv wäre anzunehmen, wir könnten mit einem Verbot das Problem des Rechtsextremismus beseitigen. Wir brauchen dieses Verbot, weil die NPD aggressiv und kämpferisch das blanke Gegenteil dessen vertritt, was wir uns mit dem Grundgesetz als Grundlage gegeben haben. Wir brauchen dieses Verbot, weil die NPD ihre Arme ganz weit gegenüber dem gewaltbereiten Spektrum geöffnet hat und weil es darüber hinaus Verbindungen zwischen ihr und dem rechtsterroristischen Spektrum gibt.

Ihr gesunder Menschenverstand in allen Ehren. Es gibt frühere Verfassungsrichter, die in Sachen NPD-Verbotsverfahren gewarnt haben: Begebt euch nicht wieder auf dieses juristische Glatteis.

Darin sehe ich noch keinen grundsätzlichen Widerspruch. Natürlich muss ein Verbotsverfahren ordentlich vorbereitet werden. Da geht mir manches momentan zu hektisch. Eine solche Vorbereitung würde für mich auch heißen: Stellt die V-Leute in diesem Bereich ab, um nicht schon den gleichen Fehler zu machen wie im ersten Verfahren, das eingestellt werden musste. Und schließlich kann sich keiner sicher sein, ob die Bundesverfassungsrichter beim möglichen Verbot der NPD die gleichen Kriterien anlegen wie seinerzeit beim Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP, 1952) und der KPD (1956). Aber ich bin der festen Überzeugung, eine Gesellschaft und ein Staat müssen deutlich machen, welche Grundlagen sie sich gegeben haben, was sie bereit sind zu akzeptieren und was nicht. Und das können und müssen wir an dieser Stelle. Die NPD muss das Parteienprivileg verlieren, und wir müssen endlich aufhören, sie mit Steuergeldern am Leben zu halten.

Wir haben den Eindruck, wenn sich Gesellschaft und Justiz mit diesem Thema beschäftigen, sprechen sie verschiedene Sprachen. Die einen mit dem schon erwähnten gesunden Menschenverstand verstehen oft nicht mehr die Sprache der Juristen.

Na, manchmal liegt es nicht nur an der Sprache. Mir ging zum Beispiel jedes Verständnis dafür ab, als der Stuttgarter Oberstaatsanwalt vor Jahren gerade die jungen Leute strafrechtlich verfolgte, die mit durchgestrichenen Hakenkreuzen gegen neonazistische Umtriebe demonstrierten. Und mir würden weitere Beispiele einfallen.

Nach gesundem Menschenverstand ist die NPD eine verfassungsfeindliche Partei. Doch die Juristen würden sagen, vielleicht, aber … Kann man diese Unterschiede normalen Menschen noch begreiflich machen?

Ich glaube nicht, dass die Juristen „aber“ sagen würden. Sie würden sagen, wenn ich das richtig einschätze, ja, sie ist eine verfassungsfeindliche Partei, aber ist sie auch so weit aggressiv kämpferisch gegen die Verfassung, dass dies tatsächlich eine Gefahr für die Demokratie bedeutet? Oder ist die Demokratie so gestärkt und gefestigt, das sie damit umgehen können muss? Diese gefährliche Aggressivität muss in diesem Verfahren belegt werden, nicht nur, dass die NPD verfassungsfeindlich ist. Sondern, wie weit hat sie dieses zerstörerische, unsere Demokratie gefährdende Potenzial. Und da sage ich, es gibt genügend Anhaltspunkte, um das sauber zu belegen. Aber dann dürfen keine Horden von V-Leuten mehr dabei sein. Doch selbst dann kann keiner hundertprozentig garantieren, dass das Verbotsverfahren erfolgreich sein wird. Eine Erfolgsgarantie gibt es vor Gericht nicht.

Sie haben die Zivilgesellschaft angesprochen, also dass die Juristerei das eine ist …

… also ich will das Risiko mit der Justiz nicht kleinreden.

darum geht es gar nicht. Sie haben gesagt, dass die Zivilgesellschaft das Wichtige ist in diesem Kampf gegen Neonazis. Wo stehen wir da?

Die Gefahr von rechts wird immer noch viel zu wenig wahr- und ernst genommen. Wir haben jetzt gerade den Medienhype mit der NSU. Ich gehe davon aus, dass der irgendwann wieder abebben wird.

Und dann?

Ich denke, das erleben wir jetzt zum Teil auch schon. Dann wäre das Thema einfach wieder verschwunden. Uns muss aber klar sein: Eine Demokratie ist nur so stark wie eine Zivilgesellschaft, die sie trägt, aus der ihre Repräsentanten und Akteure kommen. Da gilt es aufzuklären, nicht nur über rechte Strukturen, sondern auch darüber, wo sich und wie sich extrem rechtes Denken einnistet. Da muss man deren Argumentationsstrukturen kennen, merken, wie sich Diskurse verlagern … Deshalb trete ich seit Jahren dafür ein, dass unsere Schulen und Hochschulen zu Ideologiekritik befähigen, dass junge Leute Demokratie nicht nur gelehrt bekommen, sondern das man ihnen auf allen Ebenen Raum bietet, Demokratie zu erleben und zu üben. Da müssen wir alle noch viele dicke Bretter bohren. Und das möglichst miteinander.