Ein Herrscher im Reich der Theorie

Zurzeit kann man es in der Berliner RAF-Ausstellung noch einmal über den Bildschirm flackern sehen: das Gespenst namens Jean-Paul Sartre, 1974 zu Besuch bei Andreas Baader in Stammheim. Ein Geist aus einem anderen Jahrhundert tritt da dem Zuschauer entgegen. Nichts könnte heute fremder erscheinen als die Gestalt dieses Pariser Intellektuellen, einst unangefochtener Herrscher im Reich der linken Theorie und Gesellschaftskritik. Wer dennoch Nachgeborenen erklären will, was ein Intellektueller war, der sollte vielleicht zuerst Sartres oft fotografiertes Gesicht beschreiben, das ihn zum Phänotyp radikalen Denkens im 20. Jahrhundert machte: die dicken Brillengläser, die Pfeife zwischen den wulstig-gierigen Lippen, der stechende Blick, bevor der Philosoph vor seinem Tod allmählich das Augenlicht verlor.

Wie blind dieser Intellektuelle zeit seines Lebens war, wurde schon immer heftig debattiert. Im Spiegel-Gespräch hatte der Denker immerhin der RAF den Ehrentitel einer „revolutionären Gruppe“ zuerkannt. Sartres zahllose Manifeste, Artikel, Aufrufe, Kommentare und Bücher schrieben das Ende der bürgerlichen Welt herbei; in Interviews und Podiumsdiskussionen oder aber auch vor Demonstranten mit dem Megafon bewaffnet, forderte er unablässig die Revolutionierung der Verhältnisse. All diese Schlachten sind heute vorbei. Im Rückblick endeten sie mit einer totalen Niederlage Sartres. Doch die Gewinner scheinen paradoxerweise kaum davon zu profitieren. So verstrich im März ohne großes Aufsehen der 100. Geburtstag Raymond Arons, Sartres großen liberal-konservativen Antipoden und École-Normale-Kameraden der Zwanzigerjahre. Ist der Sieg über Sartre ein Pyrrhussieg für die liberale Ordnung?

Um das Phänomen Sartre zu verstehen, hilft kein Kopfschütteln über seine politischen Statements, schon gar nicht die immer gleichen Entlarvungen seiner Irrtümer. Dass er der Gegenwart ferner denn je scheint, macht den Weg frei für die einzig mögliche Wiederannäherung: die nüchterne Historisierung. Der Siegeszug der Figur des engagierten Intellektuellen im vergangenen Jahrhundert war auch eine Reaktion auf die rückständige französische Klassengesellschaft, in der die Frauen erst 1945 das Wahlrecht erhielten. Jener tief eingeschriebene Konservatismus einer patriarchalisch-bürgerlichen Gesellschaft erzeugte die radikale Geste, die seit jeher und bis heute zum französischen Traditionsbestand gehört. Dabei spiegelt sich die autoritäre Struktur noch in deren intellektuellen Gegnern: Michel Foucault, Pierre Bourdieu und eben Jean-Paul Sartre waren Führer, deren charismatische Herrschaft des Geistes von der Menge begeistert akzeptiert wurde. Diese Rolle ist hierzulande einem Jürgen Habermas erspart geblieben. „Einen Voltaire verhaftet man nicht“: Der von de Gaulle stammende Satz über Sartre aus dem wilden Jahr 1968 belegt den Respekt vor einem anderen König. Dessen Sarg begleiteten 1980 zehntausende Menschen auf den Friedhof Montparnasse.

An seinem 100. Geburtstag ist der König tot und lebt auch nicht mehr. Mit dem Ende des Weltbürgerkriegs ging auch die Ära der engagierten Intellektuellen zu Ende. Im Kampf der Großideologien wurden sie als Verstärkung gebraucht, es ging ja schließlich um Leben und Tod. Heute dagegen scheinen die Spezialisten für das Allgemeine endgültig zu historischen Figuren geworden zu sein. Immerhin hat den „Sachwaltern des Universellen“ (Pierre Bourdieu) der französische Historiker Michel Winock in seinem monumentalen Werk „Das Jahrhundert der Intellektuellen“ vor einigen Jahren ein Denkmal gesetzt. Melancholie darf da in der Rückschau durchaus aufkommen, trotz aller nachzulesenden Verrücktheiten von einst: Denn in Deutschland heißen die intellektuellen Stichwortgeber mittlerweile Harald Schmidt und Elke Heidenreich. Doch hüte man sich vor allzu raschen Prophezeiungen, die das Gespenst Jean-Paul Sartre und seine Verwandten betreffen. Denn Totgesagte leben bekanntlich länger.

ALEXANDER CAMMANN