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Umsonst und draußen

KUNST AUF DER STRASSE Die Papergirls verschenken Kunstrollen an Neuköllner Passanten. Die Alte Post in der Karl-Marx-Straße ist das Hauptquartier der Designstudenten. Viele Arbeiten kreisen um die Wirtschaftskrise

Dem Zollbeamten war die Gratiskunst nicht geheuer, die Kunstliebhaberin wollte sie kaufen und durfte nicht

VON CHRISTINA FELSCHEN

Stellen Sie sich vor, Sie machen bloß ein paar Besorgungen im Kiez, und plötzlich fliegt Ihnen ein Geschoss entgegen, begleitet vom Ruf: „Hiiier, Papergirl viiier!“ Reflexartig greifen Sie zu und halten eine Papierrolle in der Hand, die von einer Banderole zusammengehalten wird. Darin finden Sie zwölf Grafiken: kleine und große, Kopien und Originale, Fotografien, Zeichnungen, Sieb- und Linoldrucke. Und ehe Sie sich bedanken oder beschweren können, ist der Werfer in einem Fahrradtross um die Ecke verschwunden. 379-mal spielt sich diese Szene in Neukölln ab, wenn Street-Art-Künstler auf Rädern zum vierten Mal Kunstrollen an Passanten verschenken.

Die „Papergirls“, so genannt nach den US-amerikanischen Zeitungsjungs („Paperboys“), klingeln, klappern und krakeelen wie mobile Marktschreier, doch der Ton der Filmaufnahme ist im Ausstellungssaal der Alten Post in Neukölln kaum zu hören – so laut prasselt draußen der Regen. Am Fenster lehnt das allererste „Papergirl“, Aisha Ronniger, im grauen Karokleid und blickt wehmütig in den Hof. Drei Monate hat die 27-jährige Grafikdesignstudentin für diesen Augenblick gearbeitet, hat ein Urlaubssemester an der Kunsthochschule Weißensee genommen, ihre Diplomarbeit verschoben und täglich neue Pakete mit Grafiken ausgepackt, fotografiert und in ihrem Zimmer gestapelt. Und jetzt, da die „Papergirls“ Neukölln mit Kunst aus aller Welt überschwemmen wollen, wirft der Regen seinen Vorhang über die Performance. Aus, vorbei, ins Wasser gefallen.

„Verschoben“, sagt Ronniger und bemüht sich zu lächeln. „Auf morgen.“ 178 Künstler aus 17 Ländern werden mitfiebern, wenn ihre Arbeiten einem unbekannten Schicksal entgegenfliegen. Von Eva Kretschmars Kühlschrankpoesie bis zu Brian Harts Lichtzeichnung fangen viele der Grafiken auch thematisch die Vergänglichkeit des Augenblicks ein, ehe sie diese im Wurf zelebrieren. Ronnigers Kunstprojekt setzt auf anachronistisch anmutende Werte: das Geschenk und die handwerkliche Arbeit, die sie durch die Digitalisierung verschwinden sieht. Und doch hat ihr das Internet gute Dienste geleistet: Was sie 2006 als Reaktion auf das Plakatierverbot im öffentlichen Raum mit wenigen Kommilitonen begann, hat sich dank Blogs zu einem Kunstprojekt mit weltweiter Ausstrahlung entwickelt, das gerade erste Nachahmer in Kapstadt und Kalifornien findet.

Diese Entwicklung ist der Werkschau anzusehen; mit jedem Jahr ist sie heterogener und politischer geworden. Die Wirtschaftskrise steht im Zentrum vieler Grafiken des „Papergirl # 4“, etwa bei Kyle Bryant aus Boston, der eine wild wuchernde Stadt mit dramatisch fallenden Linien in Linoldruck gräbt. Doch ein solch existenzialistisches Bedrohungsszenario entwerfen nur wenige Künstler; viel häufiger trifft man auf Ironie oder nonchalante Lakonie: So nennt die Berliner Künstlerin Tika ihr Kleeblatt aus nach oben starrenden Hippieköpfen mal eben „Better no news sometimes“. Der Hamburger Grafiker „mittenimwald“ hält eine einfache Lösung für die Krise parat: „Bänker zum Henker“, lässt er einen martialisch aussehenden British Bobby auf seinem schwarz-weiß-roten Plakat im Stil faschistischer Propaganda ausrufen. „SP38“, „geboren in der Normandie, gefangen in Berlin“, lässt die Krise auf breiten Bannern hochleben ins Reich der Ironie: „Vive la Crise“. Und das Berliner Designbüro „anschlaege.de“ ist mit seinem ironisch-verklärten Rückblick schon eine utopische Zeitenwende weiter: „es war nicht alles schlecht im kapitalismus“ heißt ihr orange-schwarzes Inferno, durch das ein Flugzeug auf Entenfüßen schwebt.

Lisa von Billerbeck und Gould schlendern durch die auf wenige Kunstwerke zusammengeschrumpfte Ausstellung; fast verschluckt die Dunkelheit ihre Umrisse: ihre alten Turnschuhe, kurzen Haare und schwarz-weiß-grauen Klamotten. In ihrer Reihe „Durchhalten! Die Goldenen Zwanziger kommen wieder“ übertragen sie Fotomotive von 1929 auf den Beinahe-Big-Bang 70 Jahre später: „Gestalte Website gegen warme Mahlzeit“. Über die Krise können die beiden Designstudenten nur lachen; die Berufsaussichten für Grafiker seien schon immer mies gewesen. Gould will mit der Serie „in die eigenen Reihen pieksen“; die Schönfärberei vieler Hochglanzdesigner stört den 31-Jährigen: „Für Absurdes oder Politisches bleibt in deren Verwertungsbüros kein Platz.“

Das „Papergirl“-Projekt konterkariert die Produktwerdung der Kunst und ist doch Teil der studentischen Eigenwerbung. Selbst im Street-Art-erfahrenen Berlin hat Aisha Ronniger in den letzten Jahren alle verwirrt: vom Zollbeamten, dem die internationale Gratiskunst nicht geheuer war, bis zur Kunstliebhaberin, die nicht verstehen wollte, warum sie die Werke nicht kaufen konnte. Lauter in Stein gemeißelte Rufzeichen, die sie mit Fragezeichen überzogen haben – das ist das unsichtbare und größte Kunstwerk der „Papergirls“.

■ Ausstellung noch bis zum 31. Juli, Alte Post, Karl-Marx-Str. 97–99, geöffnet Mi.–So. 15–21 Uhr www.papergirl-berlin.de

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