Manfred und die vielen Zwerge

AUS FRANKFURT HEIDE PLATEN

Der Mann dort im Videofilm hat Augenringe und aufgedunsene Tränensäcke. Er betont, dass er nur das Beste gewollt habe. Dass er sich um keinen Pfennig bereichert habe. Er holt weit aus, versucht, die Sache zu erläutern. Er verheddert sich.

Der Mann hier im Gerichtssaal ist frisch rasiert und hat eine gesunde Gesichtsfarbe und wirkt ausgeruht. Allein jetzt, da der Film läuft, ist er etwas rot geworden. Dieser Mann ist Manfred Kanther, und eben ist er Manfred Kanther begegnet, Kanther auf Video, als er sich bei der Pressekonferenz am 14. Januar 2000 outen musste. Als er und der Schatzmeister der hessischen CDU Casimir Prinz zu Sayn-Wittgenstein zugaben, Geld der Partei auf geheimen Auslandskonten versteckt zu haben.

Die Angespanntheit, als diese Minuten aus der eigenen Vergangenheit vorgeführt werden, ist eine der wenigen Situationen, in denen Kanther unsicher wirkt. Ansonsten hat er im Saal 134 des Wiesbadener Landgerichts darum gekämpft, zu beweisen, dass er seiner Partei treu war. Denn das ist das eigentlich Schlimme für ihn: der strafrechtliche Vorwurf der Untreue. Wo doch Treue ein Wert ist, den der frühere Bundesinnenminister für sich in Anspruch nimmt.

Über ein halbes Jahr hat sich der 65-Jährige vor Gericht verteidigt, der ehemalige Generalsekretär und Vorsitzende der CDU Hessen. Gemeinsam war er angeklagt mit dem 88-jährigen Prinz Sayn-Wittgenstein und dem 72-jährigen früheren CDU-Finanzberater Horst Weyrauch. Wenn am Montag das Urteil verkündet wird, bleiben Kanther und Weyrauch allein. Das Verfahren gegen den Prinzen wurde wegen Krankheiten abgetrennt.

Ende 1983 legten die drei gemeinsam die schwarzen Konten in der Schweiz an. 20,8 Millionen Mark verschoben sie von Frankfurter Parteikonten bei der Metallbank. Später wurde es, getarnt als Vermächtnis jüdischer Emigranten, zurückgeholt. Über die Herkunft des Geldes, so stellte der Vorsitzende Richter der Wirtschaftsstrafkammer, Rolf Vogel, vor Ende der Beweisaufnahme fest, bleibe „vieles offen“.

Da lässt sich gut spekulieren. Der Anwalt des Finanzberaters Weyrauch ist ein ausgebuffter Verteidiger. Im Mannesmann-Prozess hat er im vergangenen Jahr den Freispruch für Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann erwirkt. Nun hat er aus der Frage über die Herkunft der CDU-Millionen ein originelles Konstrukt gebaut: Das Geld sei von Anfang an illegal gewesen, weil es aus den vor über 30 Jahren aufgelösten Spendenwaschanlagen „Staatsbürgerliche Vereinigungen“ stammen könne. Dann wäre es gar kein Eigentum der Partei gewesen, hätte eingezogen werden müssen und deshalb auch nicht veruntreut werden können. Was einem nicht gehört, kann man nicht veruntreuen.

Dabei hatte die hessische CDU, allen voran Ministerpräsident Roland Koch, zu Beginn der Affäre im Januar 2000 immer wieder versichert, es gehöre ihr und stamme wahrscheinlich aus den Boomzeiten: aus hoher Wahlkampfgelderstattung, steigenden CDU-Mitgliederbeiträgen und zahlreichen Spenden gut betuchter Sympathisanten.

Schlafen und schweigen

Der Mitangeklagte Sayn-Wittgenstein, der es als Einziger besser wissen muss, machte von seinem Schweigerecht Gebrauch. Als er noch dabei war, folgte er der Verhandlung meist mit gefalteten Händen, gelegentlich fiel er in Dämmerschlaf. Kanther hat sich nicht festgelegt. Er habe sich um Eingänge nicht gekümmert, weil das Sache des Schatzmeisters gewesen sei.

Überhaupt: Kanther hat keine komplizierten Konstrukte ausgetüftelt. Oft hat er nicht einmal einen Anwalt gebraucht, er ist selber Jurist. Mit schneidiger Stimme hat er den Staatsanwälten vorgeworfen, sich im „Bereich freier Rechtsschöpfung“ zu bewegen. Er hat Urteile zitiert, das Kreuz durchgedrückt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und zuweilen gestikuliert, als stünde der Innenminister vorm Bundestag. Er hat erklärt, wie er, aus Schlesien vertrieben und aus der DDR geflohen, stets „jedweder sozialistisch betriebener Politik“ entgegen treten wollte. Wie er mit der Hessen-CDU gegen den „linkswütigen Zeitgeist der Nach-68er“ kämpfte. Wie er der linken Speerspitze begegnet sei und wie er und seine Partei sie stumpf gemacht hätten. Und da soll er der CDU vorsätzlich Schaden zugefügt haben? „Wir haben gehandelt aus anständiger politischer Motivation.“

In der ersten Phase des Verfahrens hatten sich Gericht und Staatsanwaltschaft auf den Transfer des Geldes 1983 in die Schweiz konzentriert. Später verlegten sie ihren Schwerpunkt auf die letzten zehn Jahre. Denn spätestens seit 1994 hatte die Neufassung des Parteiengesetzes festgelegt, dass Spenden in den jährlichen Rechenschaftsberichten an den Bundestagspräsidenten ausgewiesen werden müssen. Mögliche Straftaten vor dieser Zeit, so sagte der Vorsitzende Richter, könne man nicht mehr verifizieren oder sie seien verjährt. Nun zielte die Argumentation der Staatsanwälte darauf, dass die Existenz des Geldes verschwiegen wurde und deswegen seit 1995 unvollständige Rechenschaftsberichte abgegeben wurden. Und das ahndete Bundestagspräsident Wolfgang Thierse im Jahr 2000 mit einer Forderung von rund 21 Millionen Euro. Die Hessen-CDU verpflichtete sich freiwillig, die Hälfte der Summe zu zahlen. Kanther rechnete zu seiner Verteidigung immer wieder sein Nullsummenspiel vor – ein wenig wie ein Mathematiklehrer. Der durch die Parteistrafe entstandene Schaden lasse sich mit den Gewinnen des angelegten Geldes verrechnen: 20,8 Millionen Mark angelegt und mehr als verdoppelt gegen 21 Millionen Euro vom Thierse-Bescheid – ergibt keinen materiellen Schaden.

Für einen Schuldspruch wegen Untreue reicht es nicht aus, den Schaden nachzuweisen. Es kommt darauf an, ob der Angeklagte den Schaden absehen konnte. Kanther bestreitet das. Spätestens mit seinem Amtsantritt als hessischer Finanzminister 1987 und dann 1993 als Bundesinnenminister habe er sich um die Parteifinanzen nicht mehr gekümmert. Doch erst 1994 wurde das Parteiengesetz verschärft. Als frühere Mitarbeiter aussagen, dass der Minister sich mehrfach über die Gesetzänderung unterrichten ließ, entgegnet Kanther, es sei ihm um anderes gegangen. Jedenfalls nicht um solche „Zwergfragen des Verwaltungsrechts“.

Zwergfragen. Er spricht es nicht aus, aber es ist schon klar, wen er für die Zwerge hält, die an ihm zerren. Die Zwergstaatsanwälte, die Zwergjournalisten und vermutlich auch der Zwergpräsident des Bundestags.

Folgt das Gericht den Aussagen Kanthers, er habe 1994 schon nichts mehr von dem Geld gewusst, dann bliebe die Angelegenheit einzig bei dem als „Gehilfen“ angeklagten Weyrauch hängen. Weyrauchs Verteidiger Eberhard Kempf versuchte auch da einen Kniff. Als das Gericht den kranken Prinz zu Sayn-Wittgensteins entließ, beantragte er die Einstellung des Verfahrens gegen Weyrauch mit dem Argument, dass „dem angeblichen Gehilfen jetzt der angebliche Täter wegfällt“. Kempf verwies außerdem auf das Urteil des Landgerichts Bonn, das 2001 das Verfahren gegen Altbundeskanzler Helmut Kohl in dessen Spendenaffäre gegen eine Geldbuße eingestellt hatte.

Das Gericht lehnte ab. Zu hoch sei der Schaden durch die Parteistrafe für die Bundes-CDU. Es könnte außerdem dem Argument des Zeugen Roland Koch folgen, der moniert hatte, hätten sich die drei noch im Dezember 1999 offenbart, hätte der Rechenschaftsbericht noch korrigiert und damit die Rückzahlung abgewendet werden können.

Am Ende wird Kanther noch einmal milde. Stehend und zum ersten Mal mit einem Anflug von Selbstkritik hält er sein Schlusswort. Vorher hat die Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer dessen Uneinsichtigkeit herausgestellt. Nun räumt Kanther ein, es sei „sehr falsch“ gewesen, sich über das Gesetz hinwegzusetzen.

Polster für Notzeiten

Andererseits aber sei dieses Verhalten nicht strafbar gewesen und schon gar keine Untreue oder „Vermögensgefährdung“ für die Partei, sondern zu ihrem Nutzen. Das Polster in der Schweiz habe man 1983 angelegt, um dem „spätsozialistischen Generalangriff“ der Linken auf die konservativen Werte auch in Notzeit zu trotzen. Dieses Motiv, gab er zu, sei heute „nur schwer zu verstehen“. Er selbst wundere sich in der Rückschau, denn er sei „klüger und ruhiger“ geworden.

Es scheint, als wolle Kanther einem Schuldspruch auch dadurch vorbeugen, dass er sich als genug bestraft stilisiert. Zum einen habe er unter dem fünf Jahre währenden Verfahren gelitten, zum anderen unter der „Medienkeule“. Ständig sei er fotografiert worden: in Freizeitkleidung, beim Leeren des Mülleimers, beim falschen Einparken. „Der ist senil in kurzen Hosen, und Autofahren kann er auch nicht“, habe es geheißen. Kanther dankt dem Gericht für das „faire Verfahren“. Dann sagt er: „Strafrechtliche Konsequenzen kann ich nicht akzeptieren.“