Vergessen wir die Romantik

NORDAMERIKA Thomas Jeier hat eine umfassende Geschichte der Indianer geschrieben. Er verabschiedet endgültig den Mythos vom „edlen Wilden“ und präsentiert einige neue Erkenntnisse

Indianerbücher gibt es wie Sand am Meer: Indianermärchen, Indianerromane, Indianerweisheiten. Aber Thomas Jeiers neues Buch über „Die ersten Amerikaner“ ist anders. Jeier reist seit Jahrzehnten nach Amerika und in die Reservate, wo er mit unzähligen Indianern über ihre aktuelle Situation und ihre Geschichte spricht und mit Experten über die neuesten Forschungen diskutiert. Er kennt die historischen Schauplätze und die Lebensbedingungen der Indianer ebenso gut wie die Fachliteratur. Und er hat all die Klischees satt, von denen die meisten Gespräche zum Thema beherrscht werden. Früher galten die Indianer als „rote Teufel“, heute sollen sie engelsgleiche Wesen sein: friedlich, sozial und umweltbewusst.

Die Indianer in Jeiers Buch sind „keine mythischen Wesen“. Er macht keinen Hehl aus seiner Sympathie für ihren fortdauernden Kampf für Gerechtigkeit, vermeidet jedoch „einseitige Schwärmereien“. Er beschreibt nicht nur die von den europäischen Invasoren erbarmungslos durchgeführten ethnischen Säuberungen, sondern auch die oft brutalen Racheakte indianischer Krieger. Er belegt, dass viele Stämme grausame Strafen und Foltermethoden anwendeten, eine strikte Klassen- und Geschlechtertrennung durchsetzten, Homosexuelle diskriminierten und ihre Umwelt plünderten.

Für Jeier sind Indianer auch niemals nur Indianer. Er geht auf die Unterschiede zwischen den über 560 Stämmen ein, von denen viele verfeindet waren. Einige lebten vorwiegend von der Jagd, andere vom Ackerbau oder vom Fischfang. Einige lebten in kleinen, autarken Gemeinschaften. Andere entwickelten eine komplexe Arbeitsteilung und Handelsnetze. Jeier konzentriert sich auf die frühe Hochkultur der Anasazi und die Verfassung der Irokesen, die Gewaltenteilung und Grundrechte verankerte und die amerikanischen Gründungsväter inspirierte.

Schließlich porträtiert Thomas Jeier Individuen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen, schreibt über die Aktivisten des American Indian Movement und die Indianer, die in Amerikas Kriegen kämpften. Er lässt die zu Wort kommen, die um ihre kulturelle Identität ringen, als auch die, welche vor allem ein modernes Leben führen möchten. Er erzählt von Indianern, die durch den Wirtschaftsboom in den Reservaten zu Wohlstand gekommen sind, und von denen, die noch immer unter Dritte-Welt-Bedingungen leben – mitten im reichen Amerika. MICHAEL HOLMES

Thomas Jeier: „Die ersten Amerikaner. Eine Geschichte der

Indianer“. DVA, München 2011, 352 Seiten, 22,99 Euro