: Da vorne steht ’ne Ampel
JONGLAGE Junge Artisten aus aller Welt verdienen ihr Geld an Berliner Straßenkreuzungen und vervollkommnen ihre Talente quasi nebenbei
Die Ampel an der Berliner Siegessäule springt auf Rot. Das ist das Zeichen für Agnieszka Kwiatkowska und Joanna Sakowicz: Lächelnd laufen sie vor die wartenden Autos, schwingen ihre Melonenhüte zum Gruß und drehen sich in ihren fantastischen Trachten, die an ungarische Puszta und arabische Mittelmeerhäfen zugleich erinnern. Vor ihnen in der Sonne dampfen die Autos, während die Polinnen ihre Volkstanzparodie mit kitschiger Emphase vollführen.
Eins, zwei, drei Keulen im schrillen Orangeton von Verkehrshütchen fliegen durch die Luft; während Sakowicz jongliert, schleicht Kwiatkowska um ihre Partnerin herum und stibitzt eine Keule aus der Luft. Eine Ampelphase lang wird die Straße zur Bühne und die Berufspendler werden zu ihrem Publikum.
„Wir verlassen das Haus in aller Frühe, um morgens und abends die Pendler abzufangen“, sagt Kwiatkowska und umklammert hektisch ihre schmalen Schultern, als riefen die Keulen nach ihr, oder ein anderes Projekt. Denn davon hat die 28-Jährige genug: Vor einem Jahr nach Berlin gekommen, arbeitet sie im Rahmen des Europäischen Freiwilligendienstes im Zirkus Cabuwazi. Das Ampelgeld spart sie für ihre Ausbildung an der renommierten Brüsseler Schule für Zirkuspädagogik, die im Herbst beginnt.
In ihrer Heimat Polen gehören die beiden jungen Artisten schon zur alten Garde der Zirkuskünstler: Denn mit der Mauer zerbrach auch die Warschauer Zirkusschule Julinek, in der das sozialistische Polen sein Ideal von klassischer Schönheit und virtuoser Choreografie verbreitete. In diese Lücke stieß vor zehn Jahren eine junge Artistengeneration, darunter Kwiatkowska und Sakowicz, die in ihrer Heimatstadt Toruń eine internationale Jonglier-Convention starteten. Reisen durch Westeuropa inspirierten sie zu einer anderen Zirkusästhetik, in die sich wilde, theatrale Elemente mischten: Die Punks drängten die Primaballerinen aus der Manege.
Ein Dutzend Ampeln entfernt, am U-Bahnhof Hallesches Tor, gibt Josma in schwarzer Hose und rotem Shirt den coolen Clown; erhobenen Hauptes und Hutes schlängelt er sich nach seiner Performance durch die Wagenreihen, ohne zu insistieren: „Was mir der Eine nicht gibt, gibt mir der Nächste.“ Nur bei privaten Sicherheitsdiensten hält er gehörigen Abstand: „Die zeigen mir regelmäßig ihre Pistole.“
In Spanien sei er oft wie ein Bettler behandelt worden, erinnert sich der 36-jährige Katalane, der seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Überhaupt: Barcelona! Gerade habe die Stadt eine amtliche Prüfung für Straßenkünstler eingeführt und den Absolventen Metallplatten in der Fußgängerzone zugewiesen. „Da kann ich auch gleich ins Büro gehen.“ Josma schüttelt den Kopf über so viel Ignoranz. „Das zerstört die Philosophie der Straßenkunst, die doch intervenieren und überraschen will.“
Josma jongliert mit Sprachen und Berufen wie mit Keulen und Instrumenten: Wenn er nicht wie in den letzten zehn Sommern irgendwo in Europa an einer Ampel steht, arbeitet er als Pizzaverkäufer, Musiker oder zuletzt in einem Berliner Kinderladen. „Für 400 Euro monatlich, da verdiene ich auf der Straße mehr.“
Runde 12 Euro verdient Josma pro Stunde, manchmal ist mehr drin: In Rom hat ihm eine Schauspielerin an seiner Ampel eine Statistenrolle in einer Serie vermittelt, in Berlin entleerte eine Roma-Familie ihr Portemonnaie in seinen Hut.
Während Kwiatkowska davon träumt, polnischen Kindern auf dem Land durch Zirkuskunst mehr Selbstvertrauen zu vermitteln, möchte Josma in Berlin bald seine eigene „Marching Band“ gründen: „mit Jongleuren, Saxofonisten und allem Pipapo.“ Zwar fühlt sich Josma im Exil und Kwiatkowska sich immer schon auf dem Rückweg nach Polen, doch eines haben sie gemeinsam: Beide sind moderne Wilhelm Meister in einem europäischen Bildungsroman.
Für beide ist die Ampel mehr als nur eine Einnahmequelle: Sie ist Experimentierfeld für schwierige Übungen, öffentliches Trainingslager für die eigene Kunst. Einmal liegen am Ende der Impro-Kür von Kwiatkowska und Sakowicz alle Keulen am Boden – da verzichten sie einfach auf den Gang durch die Reihen. Für eine Sekunde wirkt es so, als blecke der graue Audi den Kühlergrill, als zwinkere der blaue VW ihnen zu. Dann wird die Ampel grün. CHRISTINA FELSCHEN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen