Das Wesen des Winkels

90 JAHRE BAUHAUS Wie in Weimar das Geodreieck erfunden wurde

Die Nützlichkeit des Geodreiecks sollte sich bis in die entlegensten Winkel herumsprechen

Es ist das Jahr 1919 – das Jahr des Aufbruchs in die Moderne. Künstler in aller Welt versuchen verzweifelt, den geraden Strich auf die Leinwand zu zaubern. Van Gogh war gescheitert, Chagall missrieten alle Figuren und selbst die Kubisten um den frühen Picasso erkauften ihre linearen Pinselzüge mit schwer entstellten Gesichtern.

Doch 1918 war auch die Geburtsstunde des Bauhauses. In Weimar versammelte Walter Gropius begabte junge Herren um sich und gab das Ziel vor: ein klares funktionales Gebilde zu konstruieren, dessen Nützlichkeit sich bis in die entlegensten Winkel herumsprechen würde. Und mit „Winkel“ war der Gedanke eigentlich schon prima formuliert. Denn Gropius hatte die lähmenden Mathematikstunden in der Schule nicht vergessen, in denen ein überforderter Gymnasialprofessor versuchte, ein ordentliches Dreieck hinzukriegen. Und wo man an der Tafel immerhin noch die Grobkörnigkeit der Kreide für das Scheitern verantwortlich machen konnte, hatten die Schüler in ihren Heften diese Ausrede nicht.

„Man müsste“, formulierte Oskar Schlemmer knapp und entschlossen, „ein Ding konstruieren, das selber wie ein Dreieck aussieht! Und weil sich alle Dreiecke so ähneln mit ihren drei Ecken, hätte man immer eins zur Hand und wüsste, wie es geht.“ Weil Mies van der Rohe gerade dabei war, einen Stuhlbezug zurechtzuschneiden, und noch Leder übrig hatte, setzte er den Vorschlag sofort in die Tat um und legte ein fast vollkommenes Lederdreieck auf den Tisch. Die Umsitzenden kriegten sich kaum ein, und Kandinsky wollte sofort an seine Staffelei, um das Ding in sein neuestes Gemälde einzuspannen. Aber er wurde zurückgehalten. Gropius nahm den Lappen an sich und legte seine Stirn in Falten.

„Leute“, sagte er, die Dinge bauhausmäßig auf das Wesentliche bringend, „wir sind doch in erster Linie Architekten. Wir bauen eigentlich am liebsten Häuser! Nennen wir uns denn deshalb nicht auch Bauhaus …?“ Die Gruppenmitglieder nickten bescheiden, ehe der Chef fortfuhr: „Und was für Sachen brauchen wir zum Hausbau? Ich sag’s euch: harte Sachen! Steine und so’n Zeug. Auch Glas und Holz! Aber doch nicht so was Lappiges wie Leder. Denkt an den tragenden Balken!“ – „Dann nehmen wir halt Stein“, warf Schlemmer ein. „Oder einen Ziegel, der ist flacher!“, verbesserte Klee die Idee.

So flogen die Vorschläge über den Tisch, bis man sich schließlich auf Glas geeinigt hatte. Schon wollte Mies van der Rohe, der seinen Nachnamen nicht zu Unrecht trug, an das nächste Fenster und die Scheibe einschlagen. Aber auch er wurde zurückgehalten. Lieber beauftragte man einen Glaser, ein gläsernes Dreieck in der Größe des Lederlappens zurechtzuschnitzen – und das Geodreieck war geboren.

Nach einigen blutig endenden Versuchen gelang es den Meistern nicht nur, entlang der glatten Ränder exakte Geraden nachzuzeichnen, sondern auch mit den seitlichen Winkeln umzugehen. Echte Schrägen waren mit einem Male möglich.

Und damit nicht genug! Als Mies van der Rohe, der ja einen Tick für Stühle hatte, auf den Gedanken kam, eine Winkelskala von 180 Grad auf das Glas zu malen, konnte er beim Rohrverbiegen für seinen Traum, den Freischwinger, exakt den Winkel hinbekommen, der für die Stabilität am günstigsten war. So zerbrachen bei weitem nicht mehr so viel Rohre wie vorher, als er den Bogen überspannte.

Und nicht nur in der Architektenwelt trat fortan das Geodreieck seinen Siegeszug an. Weltweit werden Schüler der Mittelstufe seitdem mit der Wunderfläche ausgerüstet. Als das Plastik aufkam, wurden passgenaue Abdrücke auch für das neue Material genommen. Denn jedes Dreieck hat dieselben Maße, einen rechten und zwei halbe rechte Winkel; die Skala an der langen Seite reicht vom Mittelpunkt nach links und rechts bis 7, und über dem Nullpunkt spannt sich ein Halbbogen mit gegenläufigen Markierungen von 0 bis 180 Grad.

Bis zum heutigen Tag hat sich daran nichts geändert, ganz im Sinne des Bauhauses, Funktionalität und Schönheit, Geradlinigkeit, Schlichtheit und Erschwinglichkeit zusammenzubringen. In allen Schreibwarengeschäften werden sie preisgünstig angeboten. Man kann sie schon für 50 Cent erwerben und hat doch die komplette Geometrie des Archimedes im Ranzen. Das Einzige, was jüngst hinzukam, ist ein roter oder gelber Farbring, der sich über die Winkelskala legt. Das mag der späte Tribut an die Kirchenfensterkunst Chagalls sein. Aber Picasso sucht man vergeblich im Design des Geodreiecks. Der Triumph gehört ganz allein dem Bauhaus.REINHARD UMBACH