: Der Soziologe als Intellektueller
PIERRE BOURDIEU Zum 10. Todestag des französischen Theoretikers am 23. Januar erschien in der französischen Presse diese Würdigung von Axel Honneth, die die taz nachstehend dokumentiert
■ Der Soziologe: geboren am 1. August 1930 in Denguin, gestorben am 23. Januar 2002 in Paris. War Professor an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS), ab 1981 auch am Collège de France und seit 1985 Direktor beider Institutionen. Er belegte den Klassencharakter des französischen Bildungssystems und war Mitbegründer von Attac.
■ Sein Hauptwerk: „La distinction. Critique sociale du jugement“ erschien 1979 in Frankreich. 1982 auf Deutsch: „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“.
VON AXEL HONNETH
Wenn die Soziologie in den letzten Jahrzehnten ihrem Auftrag einer Fortsetzung der Aufklärung mit anderen Mitteln überhaupt noch nachgekommen ist, so verdankt sie das weitgehend Pierre Bourdieu.
In einer befremdlichen Mischung aus „Ehrgeiz“ und „Bescheidenheit“, die auch an ihm als Person zu beobachten war, hatte er es sich von Anfang an zur Aufgabe gemacht, jene Illusion einer Zweckfreiheit der bürgerlichen Kultur zu destruieren, die die moderne Gesellschaft bis heute über sich selber besitzt. Zu diesem Zweck entwickelte Bourdieu ein gesellschaftstheoretisches Instrumentarium, das von Marx und Weber, von Durkheim und Simmel gleichermaßen beeinflusst war, ohne freilich je nur eine bloße Addition darzustellen.
Wie aus einem Guss war die von ihm herausgearbeitete, enorm anspruchsvolle Theorie, derzufolge die symbolischen Ausdrucksformen der Gesellschaft ihre Herkunft stets in einem Konflikt haben, den die Gruppen mit Hilfe unterschiedlicher Ressourcen um ihre Stellung in der sozialen Hierarchie führen. Die Lebenswelt entpuppte sich unter der desillusionierenden Perspektive, die Bourdieu in seinen großen Untersuchungen einzunehmen versuchte, als eine Sphäre ununterbrochener Statuskämpfe, die bis hinein in die Kapillaren philosophischer Schriften und Kunstwerke Gestalt zu finden vermögen. Aber was wäre diese soziologische Theorie ohne die empirischen Befunde gewesen, durch die er mit Hilfe eines ständig wachsenden Kreises von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zeigen wollte, dass wir die Auswirkungen jener Konkurrenzkämpfe in unserer sozialen Umwelt auch tatsächlich wahrnehmen, erblicken können.
Nichts weniger als eine soziologische Schulung des Sehens war es, in die hier eingeführt wurde, indem Statistiken, Beobachtungen und Interviews zusammengetragen wurden, nur um uns am alltäglichen Detail den Niederschlag eines sozialen Kampfes erahnen zu lassen. Nun war diese Schulung allerdings nie darauf angelegt, uns an der sozialen Realität Werte, Normen oder Rationalitäten erblicken zu lassen, die dem Bemühen um soziale Distinktion enthoben sind; vielmehr war umgekehrt der soziologische Ehrgeiz Bourdieus stets darauf gerichtet, den Geltungsanspruch moralischer Normen auf die bloße Faktizität ihrer sozialen Bedeutung im Statuskonflikt zurückzuführen.
Aus diesem „Soziologismus“ seiner Theorie entspringt das Problem, an dem Bourdieu als Intellektueller hat scheitern müssen: das einer internen Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis, in der die soziologische Erschließung der Wirklichkeit bereits die normativen Gesichtspunkte zu Tage fördert, auf die die politische Kritik sich dann legitimerweise stützen kann. Ich werde hier in zwei Schritten vorgehen, indem ich zunächst noch einmal die intellektuelle Leistung Bourdieus herausstelle (I), um dann im zweiten Schritt deren ungeklärtes Verhältnis zur politischen Kritik des Intellektuellen zu thematisieren (II).
I. Das Werk
Was im soziologischen Werk von Bourdieu zustande kam, war aus deutscher Sicht wohl vor allem eine Synthese von zwei Traditionssträngen der Soziologie, die zumindest hierzulande stets als sich ausschließende Alternativen betrachtet wurden. Vor dem Nationalsozialismus hatte es in Deutschland eine soziologische Schule gegeben, deren Interesse im Wesentlichen darauf gerichtet war, in phänomennaher Einstellung den sozialen Gehalt lebensweltlicher Praktiken und Artefakte zu entschlüsseln. Als ihr Gründungsvater kann Georg Simmel gelten, ihre besten Schüler waren sicherlich unabhängige Geister wie Siegfried Kracauer und Walter Benjamin. Ob nun Kracauer die Angestelltenkultur der zwanziger Jahre untersuchte, Benjamin das Mobiliar von Berliner Bürgerwohnungen studierte, stets ließen sie sich bei ihren Deutungsversuchen von dem Impuls leiten, an den lebensweltlichen Zeugnissen der Gegenwart die Friktionen des sozialen Auf- und Abstiegs durchsichtig zu machen.
In Alternative zu dieser Tradition existierte eine zweite Schule, deren wesentliches Verdienst in dem Entwurf einer soziologischen Handlungstheorie bestand, die der Erklärung sozialer Herrschafts- und Ausschließungsprozesse galt. Ihr Gründungsvater war Max Weber, seine besten Schüler waren nicht selten im marxistischen Lager zu finden.
Trug die erste Schule zur phänomenologischen Entschlüsselung des sozialen Alltags bei, so die zweite zur handlungstheoretischen Ausdifferenzierung der Klassen- und Schichtungstheorie. In ihrem Gefolge trat zu Tage, dass die Herrschaft einer sozialen Gruppe sich nicht nur aus der Verfügung über materielle Ressourcen, sondern auch aus der Akkumulation von symbolischen Gütern, von Wissen, Kultur und Beziehungen, ergeben konnte.
Aber nie ist es in Deutschland selber, bedingt auch durch das Exil, in das der Nationalsozialismus die besten Theoretiker zwang, zu dem Versuch einer wirklichen Synthese der beiden Schulen gekommen. Erst Bourdieu hat im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts als Franzose geleistet, wozu hierzulande nach dem Krieg die intellektuellen Kontinuitäten fehlten: eine Versöhnung von Simmel und Weber zustande zu bringen, durch die es möglich wurde, an den Artefakten und Praktiken des Alltags den Stand der sozialen Kämpfe um Herrschaft zu entschlüsseln.
Daher ist die Lücke, die der unerwartete Tod von Pierre Bourdieu gerissen hat, nicht einfach in Kategorien einer einzigen Fachdisziplin oder der intellektuellen Welt zu messen. Mit ihm droht, zumindest in Deutschland, jene ganze Tradition unterzugehen, in der die Soziologie noch in lebendiger Fortsetzung ihrer Klassiker als eine Aufklärung über soziale Herrschaft begriffen wurde.
II. Die Kritik
Allerdings ist diese Analyse sozialer Herrschaft nun so verfasst, dass sie nicht die moralischen Normen oder Rationalitätsgesichtspunkte zu erkennen gibt, auf die die Kritik sich legitimerweise stützen könnte: Bourdieu analysiert die sozialen Verhältnisse vielmehr stets aus der Perspektive eines Beobachters, der sich gegenüber allen Kämpfen um sozialen Distinktionsgewinn gleichermaßen neutral verhält. Nur in manchen Färbungen seiner Terminologie, in einer minutiösen Abänderung des affektiven Gehalts der Sprache kommt die Sympathie zum Tragen, die er zweifellos für die Bemühungen der Unterschichten um die Wiedergewinnung sozialer Ehre besessen hat.
Aber diese indirekten Bekundungen ändern nichts an der Tatsache, dass Bourdieu nicht über die normative Sprache verfügt, die ihm eine Unterscheidung zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten, legitimen und illegitimen Ansprüchen auf soziale Anerkennung erlaubt hätte. Die ganze Tradition einer immanenten Kritik, die in der sozialen Wirklichkeit selber die Gesichtspunkte eines begründeten Einspruchs freizulegen versucht, ist ihm zeitlebens fremd geblieben.
Aus diesem Defizit seiner soziologischen Analysen erwächst das Problem, das seinen intellektuellen Stellungnahmen stets etwas Dezisionistisches anhaftet, weil sie nicht aus den normativen Deskriptionen selber erwachsen können, die Theorie enthält intern keine Hinweise, die begründen könnten, warum bestimmte Vorgänge in der sozialen Wirklichkeit normativ abzulehnen oder zu begrüßen sind.
■ Erstveröffentlicht in „Le Monde“ am 23. 1. 2012
■ Der Sozialphilosoph Axel Honneth, geboren 1949, ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Letzte Buchveröffentlichung: „Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit“ (2011)