Warten auf Erinnerung

Eventuell ein Alter Ego: Zur Vorführung des Films „Jakob der Lügner“ im Abaton lesen Regisseur Frank Beyer und Christine Becker aus den jüngst veröffentlichten Briefen von Jurek Becker

„Kein Thema schließt die Komödie von vornherein aus“Elementar ist die Beziehung zu Wahrheit und Lüge

von Tim Gallwitz

„Ich habe einen recht zornigen Brief an den Zoll der DDR geschrieben, worauf ein Wunder geschah. Wenige Tage später klingelte es an der Tür, und zwei Zollbeamte überreichten mir die beiden zuvor beschlagnahmten Bücher.“ Der Inhalt: Briefe an Ämter der DDR, Liebesbriefe, Korrespondenz, in der z. B. von der Zeitschrift Titanic die versprochene Prämie fürs Abonnement angemahnt wird, Briefwechsel mit Schriftstellerkollegen oder der Austausch mit Verlagen über Korrekturen, Rechte und Honorare. Aus ihnen spricht mal die Wut im Bauch, mal wunderbarer Humor und Selbstironie, mal Warmherzigkeit oder politische Standfestigkeit.

Jurek Becker, 1937 geboren, wuchs im Ghetto von Lódz auf, überlebte KZ wie Krieg und zog 1945 mit seinem wiedergefundenen Vater nach Ost-Berlin. Sein Vater Max war es auch, der Jurek auf die Idee zu Jakob der Lügner brachte. Denn Max kannte im Ghetto einen Mann, der ein Radio besaß und die Ghettobewohner mit Nachrichten versorgte, bis er eines Tages entdeckt und erschossen wurde.

Der Vater bat seinen Sohn, über diesen mutigen Mann eine Geschichte zu schreiben und ihm so ein Denkmal zu setzen. Aber das Heroische an der Story bereitete Jurek Unbehagen. Erst der Einfall, dass der Mann gar kein Radio besitzt, sondern zufällig die Meldung vom Vormarsch der Roten Armee aufschnappt und daraufhin weitere Meldungen erfindet, gab der Geschichte den gewünschten Dreh.

Das erste Exposee war bereits 1963 fertig. Doch das Filmprojekt von Autor Becker und Regisseur Frank Beyer lag infolge des faktischen Berufsverbots für Beyer (sein Film Spur der Steine wurde 1966 verboten) bis 1974 auf Eis. So wurde der geplante Film Jakob zunächst zum Roman, mit dem Becker 1969 als Schriftsteller debütierte und der ihn weltbekannt machte.

In der kulturpolitischen Tauwetterphase der 70er-Jahre gelang es schließlich, das Filmprojekt bei der DEFA durchzusetzen. Kurzzeitig war sogar Heinz Rühmann für die Rolle des Jakob im Gespräch, doch Erich Honecker höchstpersönlich verhinderte diese Besetzung. Frank Beyer erinnert sich: „Honecker wollte alles vermeiden, was auf eine ‚einheitliche deutsche Kulturnation‘ hinweisen könnte.“

Schließlich spielte Vlastimil Brodsky den Jakob und wurde bei der Berlinale für seine Darstellung mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Als erster und einziger Film aus der DDR wurde Jakob der Lügner für den Oscar nominiert. 1999 gab Robin Williams den Jakob im Hollywood-Remake von Peter Kassovitz.

Kein Thema schließe die Komödie von vornherein aus, sagte Becker anlässlich der Filmpremiere. Doch er war sich darüber klar, dass die Darstellung jüdischen Ghettoalltags mit Mitteln von Komik und Ironie als provokant oder gar blasphemisch aufgefasst werden konnte. Erst der zeitliche Abstand und das Wissen des Publikums um die historischen Fakten erlaubten seiner Meinung nach eine solche Bearbeitung des Holocaust.

Selbst konnte er sich ans Ghetto nicht erinnern: „Dennoch habe ich Geschichten über Ghettos geschrieben, als wäre ich ein Fachmann. Vielleicht habe ich gedacht, wenn ich nur lange genug schreibe, werden die Erinnerungen schon kommen.“ Vielleicht ist das Mädchen Lina, dem von Jakob Märchen aus dem imaginären Radio erzählt werden, insofern auch sein literarisches Alter Ego. Ein Kind im Ghetto, das die Zusammenhänge nicht versteht, nicht verstehen kann, dem von Erwachsenen (ähnlich dem kleinen Giosué in Roberto Benignis Das Leben ist schön, ein Film, der in dieser Hinsicht vom Jakob mehr als inspiriert ist) die Wirklichkeit „märchenhaft geschönt“ wird. Eine Wirklichkeit, die viel weniger mit Heroismus zu tun hat, sondern, wie Frank Beyer das Thema des Films erklärte, „mit den Beziehungen der Menschen zu ihr, mit ihren Beziehungen zu Wahrheit und Lüge“.

Lesung mit Christine Becker und Frank Beyer: Di, 26.4., 19 Uhr, Abaton. Filmvorführung mit Einführung von Frank Beyer um 20.45 Uhr.