Klassenbewusstsein und Kino

Die Wirklichkeit des Bildes liegt in dem, was man in ihm sieht: Das britisch-irische Filmfestival „britspotting 06“ im fsk und im Acud-Kino

Ob der aktuelle Streit zwischen dem neuerdings kapitalismuskritischen SPD-Chef Franz Müntefering und Wirtschaftsvertretern mehr ist als nur rhetorisches Geplänkel, wird sich zeigen müssen. Doch während sich hierzulande zumindest verbal neue Zeiten andeuten, war das Einteilen der Gesellschaft in Klassen in Großbritannien nie obsolet: Vom Bildungswesen bis zum sprachlichen Habitus existieren auf der Insel noch immer deutliche Klassenunterschiede, die der britische Film mit Regisseuren Mike Leigh, Stephen Frears und Ken Loach seit langem spiegelt.

Soziale Ausgrenzung und Rassismus sind auch beim diesjährigen Filmfestival „britspotting 06“ Thema. „A way of life“, das Debüt der Regisseurin Amma Asantes, zeigt das Leben einer allein erziehenden Mutter am Rande der Gesellschaft. Leigh-Anne wohnt in einem schäbigen Reihenhaus in einer Gegend, die Arbeitersiedlung zu nennen ein Euphemismus wäre. Der Vater ihres Kindes sitzt im Gefängnis, das Sozialamt verweigert die Leistungen, der Strom wird ihr abgestellt.

Anne-Leigh wehrt sich gegen die zudringlichen Fragen der Ämter ebenso wie gegen die matronisierenden Ratschläge ihrer Schwiegermutter. Doch in ihrer Verzweiflung wird ihr zunehmend jeder zum Feind, wahllos wie brutal geht sie gegen „die da draußen“ vor: gegen den Staat, ihre Freunde und schließlich die „Pakis“ aus der Nachbarschaft.

In unprätentiösen Bildern zeichnet Amma Asantes das bedrückende Porträt einer jungen Mutter, deren Überlebenskampf sich zur Paranoia steigert. Immer wieder changiert der Film zwischen nachdenklichen Momenten und Akten des dumpfen Rassismus, fokussiert mal den Einzelnen, mal das Milieu. Mögliche Gründe für Anne-Leighs Aggressionen gibt es viele. Doch verstörend ist der Film gerade deshalb, weil er sich klaren Schuldzuschreibungen entzieht. Die „downward spiral“, in die Leigh-Anne gerät, entwickelt eine Eigendynamik, die jenseits von kausalen Abfolgen und bewussten Handlungen liegt – und dennoch mündet sie in einer Tat, einem Verbrechen.

In Juliet McKoens Film „Frozen“ stürzt das rätselhafte Verschwinden ihrer Schwester Kath (Shirley Henderson) in eine tiefe Krise. Kath will an deren Tod nicht glauben und stößt bei ihren Nachforschungen auf die Videoaufzeichnung einer Bank, auf der sie die Schwester zu erkennen glaubt. Das verschwommene Kamerabild gerät ihr zum letzten Rettungsanker gegen die Unfassbarkeit der Leere. Immer näher zoomt Kath an einen kleinen Ausschnitt heran, doch wie in Antonionis „Blow Up“ zeigt sich die Wirklichkeit des Bildes nicht in dem, was es zeigt, sondern darin, was man in ihm sieht.

Es gibt viel zu sehen in den sechs Tagen des Festivals: Neben Dokumentarfilmen und dem Irish Special wird in diesem Jahr erstmalig auch ein Jugendprogramm geboten. Die Künstlerin Tracey Emin bleibt mit ihrem Debütfilm „Top Spot“ ihrem bisherigen Schaffen treu: Bekannt wurde Emin als Young British Artist durch ein Werk mit dem bezeichnenden Titel: „Everyone I ever slept with 1963–1995“.

In ihrem Film, der freimütig Super-8-Aufnahmen und Digicambilder kreuzt, lässt sie sechs Mädchen von ihren ersten schmerzhaften sexuellen Erfahrungen erzählen.

Um Erinnerung geht es in Emins autobiografischem Werk – am Ende sieht man sie in einen Helikopter steigen. Und dann fliegt sie in den blauen Himmel davon. SEBASTIAN FRENZEL

„britspotting 06“ – British and Irish Film Festival. 21. 4.–27. 4. in den Kinos Acud und fsk am Oranienplatz