Von Gefühlen spricht nur der Papagei

BERLINER MOMENTE Am Sonntag feiert der Berliner Schriftsteller Rudolf Lorenzen seinen 90. Geburtstag, sein neuer Sammelband, „Die Hustenmary“, ist eben erschienen. Zu Besuch bei einem Pragmatiker des Erzählens

Von avantgardistischen Experimenten hält sich Lorenzen fern

VON LISA FORSTER

„Kreuzberg darf nicht überschwemmt werden vom Tourismus, dessen nivellierendes Spezifikum schon immer war, die Originale zu vertreiben und Bizarres einzuebnen.“ Diese Befürchtung stammt nicht von heute, auch nicht aus den letzten Jahren. Sie findet sich in dem 1970 erschienenen Text „Einblick ins Milljöh“ von Rudolf Lorenzen. Der Berliner Schriftsteller, der am Sonntag seinen 90. Geburtstag feiert, erzählt darin von der „Spielfreude, Schlamperei, Kauzigkeit und Kunstfertigkeit“ Kreuzbergs, wo sich Berliner Künstler in der Galerie Zinke treffen und Schriftsteller wie Günter Grass auf dem Fenster sitzend ihre Texte in den Hof hinausrufen.

Eben ist dieser Text im Sammelband „Die Hustenmary“ erschienen, in dem Lorenzen seine besten „Berliner Momente“ aus den letzten 50 Jahren zusammengestellt hat. Als „Boulevardier“ streifte der Schriftsteller für das Magazin Berliner Leben und die Tageszeitung Der Abend seit den 1950er Jahren durch Westberlin. Neben anderen traf er die Wilmersdorfer Prostituierte Hustenmary, die sich mit 70 Jahren noch bei „Ossi“ in der Kneipe „übaraschn lässt, wat kommt“ beziehungsweise wer: „Ick hab viel junge Männa, den kann ick wat bietn, ooch zweema un so.“

Heute bringt Jörg Sundermeier, der Leiter des Verbrecher Verlags, ein paar der frisch gedruckten Bücher bei Lorenzen zu Hause vorbei. Der Schriftsteller und seine Frau Bettina leben in einer Altbauwohnung, von der man nicht dachte, dass es sie noch gibt. In der Nähe des Kurfürstendamms gelegen, sind ihre weitläufigen Räume mit Bücherregalen, Kunstwerken und Fotografien tapeziert, finden sich Schallplatten und Antiquitäten – die Wohnung atmet die Geschichte eines außergewöhnlichen 90-jährigen Lebens. Man wird aufgefordert, Platz zu nehmen im großen Berliner Zimmer, welches das Vorderhaus mit dem Seitenflügel verbindet und in dem sich hinter einem langen Korridor noch die Dienstbotentür befindet, wie das im Mietshaus des 19. Jahrhunderts üblich war. Eine klassische Künstlerwohnung, in der Lorenzen nun seit über 40 Jahren wohnt.

In Minsk desertiert

Der Autor wuchs im Norden Deutschlands auf, wurde während des Kriegs als Funker an der Ostfront eingesetzt, desertierte in Minsk, wurde zur Zwangsarbeit in Kasachstan herangezogen und kam 1945 wieder zurück. 1955 zog er schließlich nach Berlin, wo er sich „endlich zu Hause“ fühlte. Lorenzen, der aus Bremen stammt und nach dem Krieg ein Jahr in Oberbayern verbrachte, sagt, er sei froh gewesen, „danach in die Großstadt zu kommen“.

Das Leben, das er dann zusammen mit seiner ersten Frau Annemarie Weber inmitten der Westberliner Boheme führte, wurde für ihn schnell zur Normalität. Begeistert zeigt er sich rückblickend nicht unbedingt davon, Teil einer Künstlerszene gewesen zu sein, deren Charakter man in der „Hustenmary“ beschrieben findet. Für einen Text begleitete Lorenzen zum Beispiel den Maler Johannes Grützke auf dessen Streifzügen mit der „Neupreußischen Empfindungsgesellschaft“. In „Kulissenwechsel“ besucht er zusammen mit dem Schauspieler Rudolf Platte den Trödelladen des Malers und Dichters Kurt Mühlenhaupt. „Halbstark“ beschreibt seinen Versuch, den Schauspieler Horst Buchholz von einer absurden Filmidee abzuhalten: Es gelingt ihm nicht, seine Aussichten als zukünftiger Drehbuchautor zerschlagen sich.

Sicher, „das war eine schöne Zeit“, meint Lorenzen, doch im Grunde habe er sich immer als Einzelgänger gesehen. Eine Einladung der Gruppe 47 lehnte er 1960 ab, lieber hielt er sich aus allem heraus und widmete sich dem, worum es ihm eigentlich ging: etwas mitzuteilen. Passend dazu heißt es in seinem erstmals 1962, 2007 dann in überarbeiteter Fassung erneut erschienenen satirischen Roman „Die Beutelschneider“: „Es gibt für den Schriftsteller heutzutage drei Probleme: Erstens: Wie kommt er zu Ruhm? Zweitens: Wie kommt er zu Geld? Drittens: Wie tarnt er seine Absichten, zu Ruhm und zu Geld zu kommen? Er erfand zur Lösung des Problems auch die literarische Verbindung.“

Die kritischen Untertöne, die sich aus solchen Passagen herauslesen lassen, werden vom Autor im Gespräch aber wieder relativiert: „Ich hab ja nichts gegen die Anderen. Die schreiben ihren Kram und ich schreibe meinen.“ Diese unprätentiöse Haltung ist eine, die sich auch in Lorenzens Romanen wiederfinden lässt. Als Schriftsteller wie die der Gruppe 47, die den literarischen Geschmack angaben, entschied er sich ganz unzeitgemäß für eine realistische Erzählweise. In seinem 1959 erschienenen, fast 700-seitigen Roman „Alles andere als ein Held“ beweist er sich als großer Erzähler, der keine avantgardistischen Erzählexperimente benötigt, um seinem erzählten Geschehen Bedeutung zu verleihen.

Das lasse sich dadurch erklären, dass er aus dem Beruf komme, meint Lorenzen im Gespräch, und anders als die meisten jungen Schriftsteller schon gearbeitet hatte. Lorenzen hatte eine Ausbildung zum Grafiker gemacht und als Geschäftsführer einer Werbeagentur gearbeitet.

Daraus ergab sich eine schriftstellerische Praxis, die pragmatischer war als die der anderen und in der es darum ging, etwas Wahres, Erlebtes mitzuteilen. Eine trockene Haltung, die nicht moralisierend wirkt, aber manchmal von satirischen Elementen durchbrochen wird. Sicherlich beobachtete Lorenzen die Literatur- und Künstlerszene Deutschlands kritisch, doch vereinnahmen lassen wollte er sich weder von der Politik noch von einer Rolle, die ihm den kritischen Standpunkt aufdrücken würde. Wahrscheinlich konnte er gerade darum besonders gut festhalten, was er über vier Jahrzehnte hinweg in Westberlin erlebte.

Ohne Liebe geht es auch

Für Sebastian Haffner, der schon 1965 einen lobenden Essay über Lorenzen schrieb, verkörperte dieser das Konzept eines Romanciers, der dem Reporter näher sei als dem Komponisten: „Viele Schriftsteller glauben, sie könnten Romane aus ihrem bloßen Innenleben machen, was natürlich nicht geht.“

Lorenzen stimmt dieser Ansicht im Gespräch zu. In seinem 2010 erschienenen Roman „Ohne Liebe geht es auch“ etwa verfolgt der Autor über vier Generationen die Geschichte einer Familie. Die Lieblosigkeit dieser Menschen macht er nicht am Innenleben der Einzelnen, sondern an den jeweiligen Gesprächen und Handlungen fest. Warum schreibt Lorenzen nicht gerne über die Gefühle seiner Protagonisten? „Ich bin ohne Liebe aufgewachsen“, erklärt er nüchtern. Die einzige Figur, der im Roman der Ausdruck einer Gefühlsäußerung zugesprochen wird, bleibt dann tatsächlich ein Papagei, der eine Botschaft des Erzherzogs Ludwig Victor an dessen Geliebte überbringen soll: „Dank für Liebesdienst!“

Im Gespräch ist Lorenzen ein aufmerksamer Zuhörer, der langsam spricht, während er seinen Gesprächspartner mit hellen Augen beobachtet und oft lacht, wenn Dinge angesprochen werden, die er einmal gesagt oder geschrieben hat. Währenddessen durchblättert er neugierig sein neues Buch, das er heute zum ersten Mal in den Händen hält. Man möchte ihn gar nicht dabei stören, es sich stattdessen auf dem Sofa bequem machen und seiner fröhlichen Frau zuhören, die viel erzählt. Seinen Geburtstag wird er im Kreis der Familie feiern, ein „kleiner Umtrunk“. Danach wird er sich wieder an seine Schreibarbeit machen. Ein Roman ist schon nahezu fertiggestellt, für noch weitere hat er schon Pläne. Er komme mit dem Verlegen gar nicht hinterher, sagt Jörg Sundermeier, während Lorenzen hinter seinem Buch hervorblickt und leise schmunzelt.

■ Am 14. Februar findet im „Monarch“ die Buchpremiere und Geburtstagslesung aus der „Hustenmary“ mit Jörg Sundermeier statt