berliner szenen Trinken und Sinken 3

Der gefallene Sohn

Ich trat aus meiner Haustür, es war vielleicht 22 Uhr, da torkelte er an mir vorbei, mit irren Ausfallschritten. Er trug Streetwear, sah recht gepflegt aus, die Haare auf bescheuerte, leicht militärische Weise akkurat kurz geschnitten, die Jacke locker, die Hose nicht zu tief, für Neuköllner Verhältnisse also beinahe ein wohlhabender Junge. Vielleicht albert er nur herum, dachte ich, doch nein, bei diesen Schritten war es ein Wunder, dass er nicht ausrutschte, so weit warf er die Beine voneinander weg, weit nach links, weit nach rechts und ein bisschen nach vorn.

Notwendigerweise musste er den Gehweg ganz nutzen, von Hauswand zu Baum zu Hauswand. Immer gerade rechtzeitig lenkte er um, indem er das Bein in die Gegenrichtung warf, dann folgte der Körper dem Bein, bis er es wieder herumwarf. Stets das linke Bein, es war das letzte Körperglied, das er beherrschte. Die Arme schlackerten herum, der Kopf wackelte. Das strengt an. Also ruhte er, mit dem ich in eine Richtung musste, nach einigen Metern an einer Hauswand aus. Sein Gesicht war persilweiß.

„Ha-ha-sssst Zi-i-arette?“, fragte er, als ich an ihm vorbeiging, ich verneinte, er war ja nicht mal fünfzehn. Er blieb an der Hauswand, vorerst. Ein paar Meter weiter ging ich in den Kiosk. Dann hörte man ihn draußen vorbeipoltern, er musste sich an der Schaufensterscheibe abstoßen, damit er nicht fiel, offensichtlich hatte jetzt auch das linke Bein aufgehört, die Lenkung zu übernehmen. Als ich auf den Gehsteig trat, war er zehn Meter vor mir, gefährlich hin- und hergerissen. Schließlich blieb seine Jacke an einem Fenstersims hängen, das riss ihn zu Boden. Dort lag er verdutzt. Ich half ihm auf. Er sah mich an. Während ich ihn an die Wand lehnte, sagte er: „Mama.“ JÖRG SUNDERMEIER