Der Amtsschaden

WÜRDE Vor vier Wochen hat die Affäre um den Bundespräsidenten einen Höhepunkt erreicht. Seitdem tritt Christian Wulff nicht zurück und es ist viel vom beschädigten Amt die Rede. Aber was ist das: dieses Amt? Eine Annäherung

Das Amt: Der Bundespräsident ist das Staatsoberhaupt Deutschlands. Er repräsentiert das Land bei Staatsbesuchen. Gesetze treten erst in Kraft, wenn er sie unterzeichnet hat.

Die Behörde: Das Bundespräsidialamt unterstützt den Präsidenten. Es bereitet beispielsweise seine Reden vor. Das Amt sitzt in einem schwarzen, ovalen Bau neben dem Schloss Bellevue.

Für den Wulff-Rücktritt: Erwin Lotter (FDP), Ulrich Maurer (Linke), Joachim Meisner (Kölner Kardinal), Bernd Schlömer (Piraten), Vera Lengsfeld (CDU), Ulrich Kelber (SPD), Wolfgang Neskovic (Linke), Andrea Nahles (SPD), Karl-Georg Wellmann (CDU), Hans-Georg von der Marwitz (CDU), Sigmar Gabriel (SPD), Björn Engholm (SPD), Jürgen Abraham (Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie), Heiko Westermann (Arbeitgeberverband Nordost-Niedersachsen), Stefan Wenzel (Grüne), Gregor Gysi (Linke), Renate Künast (Grüne), Burkhard Lischka (SPD), Thomas Dechant (FDP)

Gegen den Wulff-Rücktritt: Philipp Rösler (FDP), Peter Altmaier (CDU), Patrick Döring (FDP), Angela Merkel (CDU), Thomas de Maizière (CDU), Nikolaus Schneider (Evangelische Kirche), Sigmar Gabriel (SPD), Christine Lieberknecht (CDU), Volker Bouffier (CDU), Günther Oettinger (CDU)

VON KIRSTEN KÜPPERS

Am Tag nach dem Fernsehinterview fällt Schneeregen auf das Gewerbegebiet von Erfurt. Vor dem Büro des ehemaligen Präsidentensprechers liegt grauer Matsch. Es ist der 6. Januar 2012, Christian Wulff, der Bundespräsident, musste sich gerade in ARD und ZDF gleichzeitig erklären.

Das Bundespräsidialamt in Berlin macht einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck inzwischen. Wegen eines biederen Klinkerhauses in Großburgwedel ist es ins Gerede gekommen. Irgendwann ging es um ein Bobbycar. Längst haben viele den Überblick über all die mittelmäßigen Verfehlungen und undurchsichtigen Verflechtungen ihres Staatsoberhaupts verloren.

Das Schloss Bellevue steht. Hält seinen Chef aus. Ziemlich ramponiert. Es geht eine frappierende Durchschnittlichkeit vom höchsten Amt im Staat aus, Langeweile auch. Kein Sex mit Praktikanten, keine gewaschenen Drogengelder. Ein Hauskredit.

Die Würde scheint in den vergangenen Wochen zwischen neuen, alten Anschuldigungen und mittelmäßigen Ausflüchten versickert.

Wie ist es so weit gekommen?

„Das Amt ist nichts, die Person ist alles“

Man kann diese Situation zum Anlass nehmen, ein paar Männer zu besuchen, die sich auskennen mit dem Schloss Bellevue und dem ovalen Präsidialamtsbau wenige Meter daneben. Nur Männer waren zu sprechen. Auch das ein Umstand, der auf den insgesamt eher traurigen Zustand des Amtes hinweist.

Einen Tag nach dem Fernsehinterview also hängen die Schneewolken schmutzig über dem Büroriegel der Zeitungsgruppe Thüringen, dem weiten Parkplatz davor. Gewerbegebiet Erfurt. Die Leidenschaftslosigkeit dieser Umgebung ist bestimmt eine gute Voraussetzung für den nüchternen Blick auf das Schloss Bellevue. Klaus Schrotthofer wirft sich in den schwarzen Sessel seines Managerbüros der Thüringer Zeitungsgruppe, ein großer Mann, volles Haar, dunkler Rollkragenpulli. Er hat zwei Jahre im Präsidialamt gearbeitet.

„Das Amt ist nichts, die Person ist alles“, sagt Klaus Schrotthofer.

Ein Satz, in dem nichts Tröstliches steckt.

Im seinem Fernsehinterview am Abend vorher hatte Präsident Wulff versucht, es so aussehen zu lassen, als sei nichts dabei, wenn ein Politiker sich eine halbe Million Euro von reichen Geschäftsleuten leiht. Es klang zwischenzeitlich ein bisschen, als hätte er im Wohnzimmer von Freunden den Schlafsack ausgerollt.

Warum schafft man es dann nicht einfach ab?

Die Hauptperson hat keine gute Vorstellung abgegeben.

Klaus Schrotthofer hängt jetzt in der Provinz fest. Aber er war mal Pressesprecher des Bundespräsidenten Johannes Rau. „Fantastische Zeit“, bellt er.

Er war ein junger Journalist, der im Zuge turbulenter Umstrukturierungen bei der Berliner Zeitung stellvertretender Chefredakteur geworden war. Der mit einer Politikerin der Grünen verheiratet war. Der nicht Nein sagen konnte, als Johannes Rau ihn sonntags auf dem Handy anrief und ihm den Job anbot. Vielleicht hat er, der von außen kam, schon da erkannt, wie schwach das höchste Amt im Staat eigentlich ist.

„Viele Gründe, warum man dieses Amt 1949 geschaffen hat, haben sich einfach überlebt“, meint er jetzt, es klingt ziemlich lässig. „Unser politisches System ist stabil genug, um Größenwahn im Kanzleramt zu verhindern. Und das Bild, das das Ausland sich von Deutschland macht, wird doch längst nicht mehr davon bestimmt, was der deutsche Bundespräsident tut, wenn er auf Reisen geht.“ Schrotthofer lacht, findet gut, wie er das Amt runtermacht, von dem gerade halb Deutschland spricht, er packt eine Zigarettenschachtel auf den Tisch, so wohl fühlt er sich jetzt schon.

Wenn das Amt so überflüssig ist: Warum schafft man es dann nicht einfach ab?

Schrotthofer bläst Rauch Richtung Fenster, in eine unbestimmte Ferne. Draußen ein dunkler Acker, der blau-gelbe Würfel einer Ikea-Filiale.

Damals ist Schrotthofer mit Rau in der Präsidentenmaschine um die Welt gereist, er hat mit Bill Clinton Scherze gemacht, den Papst empfangen. Die Fotos stehen im Regal an der Wand.

„Hey, es braucht doch einen, der jenseits von parteipolitischen Interessen die Probleme unserer Gesellschaft anspricht“, ruft Schrotthofer jetzt. „Jemand, der einen tiefen Gedanken formuliert zur Finanzkrise. Zu den Vorurteilen zwischen Ost und West. Oder zum Rechtsextremismus. Ey, da wünscht man sich wirklich, dass jemand mal was sagt.“

Es ist klar, dass er nicht findet, dass Christian Wulff dieser Jemand jemals sein könnte.

Es ist der 6. Januar. Und es gibt jetzt eine öffentliche Auseinandersetzung über einen Mailbox-Anruf des Bundespräsidenten beim Bild-Chefredakteur Kai Diekmann.

Es ist nicht das erste Mal, dass das Bundespräsidialamt angeschlagen ist.

Matthias Koeppel war nah dran damals. Koeppel, ein kleiner runder Mann, 74 Jahre alt, schwarzer Anzug, schwarze Slipper, hatte seinen Skizzenblock dabei, als er sich vor zwei Jahren auf den Weg machte ins Schloss Bellevue. Koeppel ist Maler, er hatte schon das Portrait von Bundespräsident Johannes Rau angefertigt, nun sollte er auch den Nachfolger Horst Köhler malen.

„Ich bin nicht so versessen auf solche Aufträge“, sagt Koeppel.

Nicht mal der Hofmaler ist von seinem Job überzeugt.

Er malte Köhler mit einem leisen Lächeln

Horst Köhler galt als etwas langweiliger Beamter. Als Präsident hielt er Reden zu Lohnnebenkosten. Im Fernsehen hatte Köhler auf den Maler Matthias Koeppel hölzern und unnahbar gewirkt. Als Koeppel dann in Köhlers Arbeitszimmer im Schloss Bellevue stand, fand er einen heiteren Mann vor, der gerade vom Joggen kam, keine Krawatte trug und nette Plaudereien von sich gab.

Koeppel malte einen Bundespräsidenten mit einem leisen Lächeln um den Mund: „Er war mir sehr lebenslustig erschienen.“

Aber als es anstrengend wurde, ließ Köhler das Amt fallen wie einen Stein.

Es war nichts Schlimmes passiert, er war nur kritisiert worden.

Der Maler Matthias Koeppel ist kein Hellseher, aber wer so in Gesichter guckt wie er, hat eine gute Chance, die Wahrheit zu erkennen, er sagt: „Ich denke, Köhler wollte einfach seine restliche Lebenszeit genießen.“

Der Präsident selbst hatte vorgeführt, dass es Wichtigeres gibt auf der Welt als sein Amt. Das Schloss Bellevue war zur Durchgangsstation geworden. Diese Schramme ist das, was übrig bleibt von Köhlers Amtszeit. Kürzlich hat der Maler Koeppel den Expräsidenten noch einmal getroffen. Anfang Januar wurde das Porträt, das er gemalt hatte, bei einem kleinen Festakt im Rathaus Tiergarten des Berliner Bezirks Mitte enthüllt. Köhler trug eine rosa Krawatte, er wirkte ausgelassen und schüttelte Koeppel mehrmals die Hand, als seien sie alte Bekannte.

„Den kann jetzt nur noch ein Tsunami retten“

Zwei Präsidenten hat Matthias Koeppel jetzt gemalt. Man kann ihn fragen, was er von der Situation des aktuellen Kandidaten hält. Koeppel ist ein stiller alter Mann, er sagt: „Den kann jetzt nur noch ein Tsunami retten.“

Einen Tag später rammt ein Kreuzfahrtschiff mit mehr als 4.000 Menschen an Bord vor der Mittelmeerinsel Giglio einen Felsen und läuft auf Grund.

Es ist jetzt der 14. Januar und ein Filmproduzent soll Christian Wulff ein Hotelzimmer-Upgrade in München bezahlt haben, melden die Zeitungen und Magazine. Beim Publikum zeigen sich erste Ermüdungserscheinungen. Aber in Gevelsberg am Rande des Ruhrgebiets sitzen zwei Ruheständler in einem kanariengelben Einfamilienhaus und blicken weiter nach Berlin. Sie haben den Eindruck, sie könnten die Situation besser bewältigen. Es könnte sein, dass das stimmt.

Rüdiger Frohn war Chef des Präsidialamts unter Bundespräsident Rau, Christoph Habermann sein Stellvertreter. Vieles an den zwei Männern deutet auf eine erfahrene Gelassenheit: die Strickstrümpfe und Hausschuhe an Frohns Füßen. Der Hundekorb in der Zimmerecke. Zwei Sozialdemokraten in Jeans und Wollpullis.

„Jeder Präsident“, sagt Frohn, „erarbeitet sich mit seinen Mitarbeitern einen eigenen besonderen Stil. Man überlegt gemeinsam: Was soll die Melodie sein, die wir singen.“

Frohn und Habermann kennen auch die schiefen Töne, sie haben erlebt, wie es ist, wenn Unterstellungen in der Zeitung stehen und man reagieren muss als Mitarbeiter.

Rau wurde beschuldigt, private und dienstliche Flugreisen in seiner Zeit als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen nicht korrekt getrennt zu haben. „Da war nichts dran“, raunzt Frohn, springt auf, zieht zum Beweis irgendeinen Bericht aus dem Regal, blättert hastig. Sein Kollege fährt dazwischen: „Man muss an einer solchen Stelle unbedingt totale Transparenz walten lassen.“ Frohn und Habermann haben da auch Fehler gemacht. „Es wäre besser gewesen, wir wären gleich offensiver an die Öffentlichkeit gegangen“, sagt Habermann.

Müller-Gerbes warf sich vor seinen Präsidenten

Der nordrhein-westfälische Landtag setzte einen Untersuchungsausschuss ein, Habermann musste Raus alte Terminkalender ausgraben, die Einträge mit den Flugplänen abgleichen, eine ziemlich mühselige Angelegenheit. Rau gab dem Deutschlandradio ein selbstbewusstes Interview.

Am Ende hat es funktioniert: Er wurde noch zu einem geachteten Bundespräsidenten, hielt Reden zur Zuwanderung, zu Gentechnik und Globalisierung, mahnte Frieden an, hob den Zeigefinger. Er etablierte sich als moralische Instanz.

Es war offenbar das, was die Menschen von diesem Posten erwarten.

Der Präsident ist der einzige Funktionsträger im Land, von dem keine Taten verlangt werden, nur Worte.

Der Bundespräsident soll einen. „Er soll Ungehörtes zur Sprache bringen“, sagt Frohn. „Seine Funktion ist die der Integration, nicht die der politischen Beschleunigung.“ Vielleicht ist das die sozialdemokratische Sicht: integrieren.

Der Fall Rau jedenfalls zeigt: Das Amt kann eine Affäre überstehen. Solange das Krisenmanagement stimmt. Oder: Nicht der Präsident ist schuld. Schuld ist immer der Pressesprecher.

Christian Wulff hat seinen am 22. Dezember entlassen: Olaf Glaeseker.

Die schlechte Pressearbeit ist noch das Beste, was man ihm jetzt vorwirft.

Wer etwas über das Totalversagen von Wulffs Presseleuten hören will, sollte bei Geert Müller-Gerbes in Bonn anrufen.

Müller-Gerbes war selbst von 1969 bis 1974 Sprecher von Bundespräsident Gustav Heinemann, bevor er zum Fernsehen ging und bei RTL „Wie bitte?“ moderierte – er war der onkelige Verbraucheranwalt mit dem struppigen weißen Schnurrbart.

Auch Müller-Gerbes hat sie durchgemacht, die brenzligen Situationen im Bundespräsidialamt. Zum Beispiel den Besuch des südvietnamesischen Ministerpräsidenten in Bonn, als draußen die Studenten gegen den Vietnam-Krieg protestierten. Als kein deutscher Politiker sich mit dem südvietnamesischen Ministerpräsidenten erwischen lassen wollte. Trotzdem sagten sie das missliche Treffen nicht ab, um einen diplomatischen Affront zu vermeiden.

Müller-Gerbes hat sich vor die Fotografen gestellt, er hat den Bundespräsidenten verdeckt, er hat die Arme hochgehoben, seinen Oberkörper ins Bild geschoben. Damit es wenigstens keine Bilder gab.

Er hat sich in die Bresche geworfen für seinen Chef.

Müller-Gerbes ist jetzt Rentner, 74 Jahre alt, er haut Sätze raus wie: „Journalisten sind Jagdhunde, man muss ihnen so viele Knochen hinwerfen, bis sie satt sind und müde.“

Dann entwirft er sein Bild von der Würde des Amtes: „Ein Bundespräsident darf nicht selbst irgendwo anrufen. Niemals! Der darf nicht mal ein Handy in der Nähe haben. Ein Bundespräsident telefoniert nicht. Der wird allenfalls durchgestellt!“

Christian Wulff hat selbst angerufen bei der Bild-Zeitung.

„Die Autorität des Amtes muss vom Amtsinhaber gefüllt werden“, sagt Müller-Gerbes. „Es ist eine Autorität im geistigen Sinn. Bunte Bilder, wie wir sie vom gegenwärtigen Präsidenten gesehen haben, können kein Ersatz für Inhalte sein. Glamour reicht nicht aus. Dafür haben wir Dieter Bohlen. Mich hat erstaunt, dass Wulff das Amt überhaupt angenommen hat. Er hätte wissen müssen, dass er zu klein ist dafür. Das Amt braucht ein gerüttelt Maß an Erfahrung. Und Wulff verwechselt etwas: Es ist nicht sein Amt. Es ist unser Amt.“

Der Amtsinhaber versucht mit Pflichtterminen den Januar zu überstehen.

„Der Präsident war eine Inkarnation des Staates“

An einem trüben Mittwoch überreicht ein Staatssekretär aus dem Finanzministerium dem Bundespräsidenten im Schloss Bellevue die neuen Wohlfahrtsbriefmarken. Das Gesicht des Staatssekretärs glänzt, als hätte er es mit Fettcreme eingeschmiert. Wulff sieht blass aus, er bewegt sich wie ein Roboter. Die Sondermarkenserie des Jahres 2012 trägt den Titel „Wahre Werte“.

Es ist Wulffs Schicksal, dass derzeit sogar harmlose Briefmarkenaufschriften wirken wie der ironische Kommentar auf seine Situation.

Aber die rund hundert Gäste, die zu dieser Veranstaltung ins Schloss Bellevue gekommen sind, gehen den Bundespräsidenten nicht an, stellen keine Fragen, stupsen sich nicht heimlich mit den Ellenbogen. Es sind ältere Menschen in Anzügen und teuren Schuhen, und sie tun so, als wäre mit ihrem Staatsoberhaupt alles ganz normal.

Die Veranstaltung erinnert an das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“.

Es ist jetzt der 19. Januar geworden. Wegen des Verdachts auf Korruption lässt die Staatsanwaltschaft Hannover Privaträume von Wulffs einstigem Vertrauten Olaf Glaeseker durchsuchen.

Doch die Aufregung läppert dahin. Es kann sein, dass Wulff sich aus der Sache rauslangweilt.

Vielleicht wäre ja mehr Demokratie die Lösung. Vielleicht sollte das Volk den Bundespräsidenten selbst aussuchen dürfen.

Man kann diese Idee zu einem weiteren dieser Männer tragen.

Es sind ja nur Männer zu sprechen. Zwar gehören zu den rund 170 Mitarbeitern des Präsidialamts durchaus Frauen, nicht nur als Floristinnen und Hauswirtschafterinnen. Aber da das Amt zurzeit keine Gespräche mit seinen Beamten zulässt, muss sich diese Recherche auf Ehemalige beschränken. Da tauchten Frauen vor allem als Kaffeekocherinnen und Gattinnen auf.

Man kann die Idee mit der Direktwahl also zu Heinrich Seemann tragen, einem eleganten Herrn, der in seinem Wohnzimmer in Kleinmachnow bei Berlin sitzt und Tee trinkt aus einer Porzellantasse. Seemann hat unter Walter Scheel und Karl Carstens in der Auslandsabteilung des Bundespräsidialamts gearbeitet, reiste als Protokollchef mit Bundespräsident Richard von Weizsäcker nach Washington, bessere Zeiten, sagt er.

Vor allem wegen von Weizsäcker. Der sah gut aus, ein feingliedriger Aristokrat neben einem klotzigen Kanzler, konnte wunderbare Ansprachen halten, ohne Zettel, in mehreren Sprachen auch, selbst das Ausland blickte neidisch auf diesen Mann, erzählt Seemann. Er ist ein bisschen ins Reden geraten.

„Was schon auffällt“, sagt er. „Für uns damals war das Amt eine Verpflichtung. Man nahm das nicht als normalen Job wahr. Man identifizierte sich mit dem Staat. Der Bundespräsident war die Inkarnation des Staates. Dieses Verantwortungsbewusstsein scheint mir spätestens seit Köhler verloren gegangen zu sein.“

Er überlegt: „Vielleicht ist das ein Verfall der politischen Kultur.“

Die Eskalation der Langeweile ist die Chance

Heinrich Seemann sitzt zwischen den Devotionalien, die er während seiner Diplomatenkarriere gesammelt hat, Drachenfiguren, Teppiche, Holzschnitzereien. Er sagt: „Ich halte die deutsche Verfassung für eine der besten der Welt.“ Er hat im Ausland eine Menge Werbung gemacht dafür, auch bei instabilen Regimen. Und dann: „Wenn der Bundespräsident vom Volk gewählt wird, besitzt das Amt eine höhere Legitimität als das Kanzleramt. Dann müsste der Präsident auch mehr Macht bekommen. Genau das wollte unsere Verfassung ja nach den Erfahrungen der Weimarer Republik und des Dritten Reiches vermeiden.“

Wenn es nach Seemann geht, muss also alles so bleiben, wie es ist.

Für diesen Weg hat sich auch Christian Wulff entschieden. Ein Mann, der keine besseren Angebote hat.

Das Umfrageinstitut Infratest dimap meldet den schlechtesten Wert, der jemals für einen Präsidenten ermittelt wurde.

Die Chance von Christian Wulff besteht jetzt in der Eskalation der Langeweile. Dass alle so erschöpft sind vom Sortieren der Nichtigkeiten und Neuigkeiten, dass sie den Präsidenten übersehen wie einen vergessenen Schirm im Ständer.

26. Januar. Das ehemalige Amtszimmer von Wulffs ehemaligem Sprecher Olaf Glaeseker wird durchsucht. Die Sache könnte doch noch mal spannend werden.

Kürzlich hat Wulff angekündigt, dass auch von ihm ein Porträt gemalt werden soll.

„Ich steh bereit“, sagt Präsidentenmaler Matthias Koeppel. „Ich mal ja nicht nur artige Menschen.“

Wie das Wulff-Porträt aussehen wird? Koeppel weiß es genau: „Wulff hat dieses Lächeln. Das passt nicht zur Verbissenheit, mit der er am Amt festhält. Diese grimmige Verbissenheit, die würde ich malen.“

Am Ende bleibt wohl ein Ölgemälde mit einem Kopf, der verbiestert guckt.

Kirsten Küppers, 39, ist sonntaz-Autorin. Sie hat zwei Kinder, aber kein Haus und keinen Kredit