„Die Deutschen hörten ja nicht auf zu kämpfen“

Der Leiter des Deutsch-Russischen Museums Karlshorst, Peter Jahn, über den Kampf um Berlin, der in diesen Tagen vor 60 Jahren begann: Knapp einer Million sowjetischen Soldaten standen rund 100.000 Deutsche gegenüber – darunter arthritische Alte mit Beutegewehren aus dem Ersten Weltkrieg

INTERVIEW PHILIPP GESSLER

taz: Vor 60 Jahren begann der Sturm auf Berlin. Sowjetische Artillerie bombardierte die Stadt. War das schlimmer als Fliegerbomben, die schon massenhaft gefallen waren?

Peter Jahn: Es war überraschender. Bei Fliegern gab es noch bis zum Schluss Luftalarm, so dass man in die Luftschutzkeller fliehen konnte. Bei Artillerie gab es keine Vorwarnung. Die Zerstörungen waren deutlich kleiner, aber es wurden viele getötet, weil sie nicht vom 21. April bis zum 2. Mai in den Kellern bleiben konnten. Man musste ja beispielsweise raus, um Wasser zu holen.

Wie viel Prozent der Stadt waren da schon zerstört?

Ich weiß nicht, was die Sowjets an Restarbeit angerichtet haben. Aber am Ende waren 25 bis 30 Prozent der Gebäude Berlins nur noch Schutt. Und noch einmal 30 Prozent waren nicht benutzbar, aber wiederaufbaubar. Der Rest war leicht angeschlagen oder – oh Wunder! – gar nicht zerstört.

Knapp eine Million sowjetische Soldaten standen gegen knapp 100.000 schlecht ausgerüstete „Verteidiger“ Berlins – sie hatten keine Chance.

Richtig. Aber ein paar mehr waren es schon auf deutscher Seite, so hatte etwa die deutsche Polizei Kombattanten-Status. Der Unterschied war gewaltig, die Kampfkraft – wichtiger als die absolute Zahl! – war total unterschiedlich. Zwar gab es deutsche Verbände, die bis zum Letzten kämpften, etwa die Waffen-SS und die Elitetruppe der Fallschirmjäger, die noch sehr effizient und verlustreich für die Russen Widerstand leisteten. Aber ein großer Teil waren Volkssturm-Verbände, ältere Herren mit Arthritis und italienischen Beutegewehren aus dem Ersten Weltkrieg, zu denen dann griechische Patronen geliefert wurden, die nicht passten.

Zudem waren die sowjetischen Truppen kampferprobt.

Ja. Die Deutschen hatten keine Chance. Die sowjetischen Truppen hatten zwar Angst vor dem Häuserkampf, das sagten Soldaten nachher immer wieder. Aber das hatten sie immerhin geübt. Das Vorgehen war nicht so menschenschonend wie bei den Amerikanern, aber wenn es irgendwo Widerstand gab, haben die Sowjets eben ihre schwere Artillerie herangeholt und das entsprechende Haus in Grund und Boden geschossen.

Was ist an der Überlieferung wahr, dass Stalin am 1. Mai Berlin unbedingt erobert haben wollte und deshalb viel mehr Sowjets fielen als nötig?

Schwer zu sagen. Bei der Eroberung Kiews spielten solche Symboldaten eine Rolle. Es gab wohl solche Äußerungen Stalins nebenher – und die wurden dann in dieser Machtstruktur wie das Wort des Herrn genommen. Aber es ist nicht erkennbar, dass der Kampf in einer Weise forciert wurde, dass Verluste keine Rolle mehr spielten. Was man am Anfang des Krieges noch sieht, dass irgendwelche Massen einfach ins Feuer geschickt wurden, sogar noch beim Angriff auf die Seelower Höhen vor Berlin, wenn einfach mal tausende Soldaten geopfert werden, das haben wir nicht beim Kampf um Berlin.

Es ist also eine Legende.

Ja, ebenso wie die, Berlin sei nach dem Sieg eine Woche lang freigegeben worden zum Plündern und Vergewaltigen. Wir wissen, dass die Politoffiziere vom Beginn der Offensive an versuchten, das in den Griff zu bekommen, aber dafür mehr als zwei Wochen brauchten.

Umstritten ist ja immer noch, wie viele Menschen beim Kampf um Berlin gefallen sind.

Die verlässlichsten Schätzungen sprechen von 70.000 Toten insgesamt. Das sind dann etwa 22.000 sowjetische Soldaten, annähernd ebenso viele deutsche – der Rest sind Zivilisten und Männer aus dem „Volkssturm“.

Der „Volkssturm“ war militärisch nicht ernst zu nehmen, obwohl es darin noch fanatische Hitlerjungen gab, die mit Begeisterung gekämpft haben.

Na sicher. Die brannten da noch eine Panzerfaust ab und haben vielleicht auch mal einen getroffen, aber das waren Einzelaktionen. Es brachte dennoch Verluste und hat die Russen verbittert – das war einer der Gründe, weshalb sie dann so brutal gegen die Zivilbevölkerung vorgingen. Es gab wohl bei alten deutschen Soldaten auch eine Haltung, zu glauben: Wir müssen weiterkämpfen, denn wenn die nur die Hälfte dessen anrichten, was wir bei ihnen angerichtet haben, dann überlebt keiner.

Wie viele Frauen wurden in Berlin vergewaltigt?

Es gibt Schätzungen, aber keine ist solide begründbar. Es war jedenfalls eine riesige Zahl, mit einiger Wahrscheinlichkeit eine sechsstellige. Es gibt da eine interessante Geschichte: Ein sowjetischer Soldat wurde von seinem Regimentskommandeur einen Tag nach der Kapitulation erschossen, weil der Soldat eine Berliner Frau getötet hatte, die sich gegen die Vergewaltigung gewehrt hatte. Der Regimentskommandeur machte kurzen Prozess, dazu hatte er das Recht. Daraufhin rottete sich die Kompanie des getöteten Soldaten zusammen, um den Kommandeur zu lynchen. Es gab keine andere Lösung, als den Kommandeur durch einen Kellerdurchbruch in ein Nebenhaus zu bringen – so lange, bis die Soldaten ihren Rausch ausgeschlafen hatten. Es gibt den Quellen nach tatsächlich einen festen Willen, die Vergewaltigungen zu unterbinden.

Die russischen Truppen waren verbittert nach den Verwüstungen in ihrer Heimat durch die Deutschen, oder?

Ja. Zudem gab es eine sowjetische Propaganda, die sagte: Du bist der persönliche Rächer für all das, was uns angetan wurde – aber eine ähnlich blutrünstige Propaganda finden wir auch auf amerikanischer Seite. Aber die sowjetischen Truppen kamen über tausende von Kilometern über ein Gebiet, wo sie sahen, was die Deutschen angerichtet haben. Sie mussten gar nicht ins befreite KZ Majdanek gehen, sondern sie kamen durch Dörfer, die einfach nicht mehr existierten, und das hundertfach. Deshalb bekam die Propaganda eine ungeheure Glaubwürdigkeit. Zudem kamen die Russen in ein ungeheuer reiches Land für russische Verhältnisse. Da wuchs die Verbitterung, weil sie realisierten, dass hier nicht der Habenichts den Reichen überfallen hatte, sondern die reichen Deutschen die armen Russen.

Militärisch war die Eroberung Berlins notwendig?

Ja, denn die Deutschen hörten ja nicht auf zu kämpfen. Spätestens Ende 1944 hätten sie bei minimaler militärischer Logik den Krieg beenden müssen. Dann hätten sehr viele noch überlebt. Von den etwa 6,5 Millionen deutschen Toten starben in den letzten viereinhalb Monaten noch 2 Millionen.