Kinder haften für ihre Eltern

Die Stadt Essen schiebt staatenlose Kurden ab, obwohl sie gute Chancen haben, vom Land NRW als Härtefall anerkannt zu werden – und der Oberbürgermeister ihnen Unterstützung versprach

von MIRIAM BUNJES

„Ich will nicht mehr hinnehmen, dass wir voll integrierte Kinder aus Migrantenfamilien aus formalen Gründen abschieben“, versprach Essens Oberbürgermeister Wolfgang Reiniger (CDU) beim Amtsantritt in Oktober. Ein Satz, der viele Essener auf ein Ende der rigiden Abschiebepolitik hoffen ließ – und der den Stadtchef diese Woche in Rechtfertigungsdruck bringt.

Denn an der Abschiebepraxis hat sich in Essen nichts geändert – auch nicht für Menschen, die fast ihr ganzes Leben in der Ruhrgebietsstadt verbracht haben wie Achmed (24) und Zouheir (21). Nach 17 Jahren Aufenthalt landeten die beiden Brüder vergangene Woche unfreiwillig in der Türkei – einem Land, das sie noch nie betreten haben und dessen Sprache sie nicht sprechen. Ihr Eltern reisten mit den damals drei und siebenjährigen Jungen als Flüchtlinge aus dem Libanon ein. Wie die meisten Kurden aus der Region hatten sie keine Papiere, die Staatsangehörigkeit der Familie blieb „ungeklärt“.

17 Jahre lang wurden Achmed und Zouheir von den Behörden geduldet. Dann stellte sich heraus, dass ihre Eltern bei der Einreise ihre Herkunft falsch angegeben hatten. Eine „arglistige Täuschung“ urteilte das Oberverwaltungsgericht. Und eine, die auf die Kinder zurückfällt. „Das Aufenthaltsrecht leitet sich ausschließlich von ihren Eltern ab“, sagt Rechtsanwalt Eberhard Haberkern. „Also haften hier Kinder für ihre Eltern.“

Rund 5.000 Flüchtlinge mit einer solchen „ungeklärten“ Staatsangehörigkeit leben in NRW, schätzen Flüchtlingsorganisationen. Regelmäßig decken Ausländerbehörden vermeintliche Falschaussagen von libanesischen Flüchtlingen auf. „Allerdings sind die Register der Türkei erwiesenermaßen voller Fehler“, sagt Benita Suwelack vom Flüchtlingsrat NRW.

Ein Gros der staatenlosen Libanesen lebt in Essen, oft bereits in der dritten Generation. 1.700 „Fälle“ wie Achmed und Zouheir zählt das Essener Ausländeramt, das für diese Bevölkerungsgruppe eine eigene Arbeitsgruppe geschaffen hat. Menschlich sei die Abschiebung der Flüchtlingskinder nach mehr als zehn Jahr „inakzeptabel und vor dem Hintergrund des Bevölkerungsrückgangs auch noch unklug“, so Oberbürgermeister Reiniger in seiner Antrittsrede.

„Warum Herr Reiniger seinen Worten nicht auch Taten folgen lässt, ist mir unbegreiflich“, sagt Haberkern. Denn die Staatenlosen hätten hervorragende Chancen von der Härtefallkommission des Landes Nordrhein-Westfalen aus humanitären Gründen ein Bleiberecht zu erhalten. „Wenn sie seit ihrer Kindheit hier sind oder sogar hier geboren und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, dürfen sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hier bleiben“, sagt Haberkern. „Sie müssen nach der gerichtlichem Abschiebungs-Entscheid nur einen entsprechenden Antrag stellen.“ Dafür bleibt jedoch meist keine Zeit, denn die Abschiebeteams kommen in Essen in den frühen Morgenstunden direkt am Tag nach der Gerichtsentscheidung. „Wenn der Stadt Essen etwas an diesen Menschen liegt, informiert sie sie über ihre Rechte und gibt ihnen ein paar Tage mehr Zeit“, sagt Haberkern. Achmed und Zouheir müssen nun von der Türkei aus einen komplizierteren juristischen Weg suchen.