Den Kopf durch das Loch in der Mauer gesteckt

PLATZ MACHEN – PLATZ SCHAFFEN Die Berliner Künstlerin Stefanie Bürkle verfolgt in einem Forschungsprojekt die migrantische Sicht auf den Mauerfall

■ Bürkle, 1966 in Heilbronn geboren, studierte zunächst Theatermalerei und machte 1989 ihr Szenografiediplom an der École des Beaux-Arts, Paris. 1989–92 studierte sie freie Malerei an der Universität der Künste Berlin. Seit Februar 2009 ist sie Professorin für Bildende Kunst an der Technischen Universität Berlin.

VON JULIA GWENDOLYN SCHNEIDER

„Wir müssen Platz machen. Die wollen eine Mauer bauen, die damalige Mauer“, erzählt ein türkischer Autohändler, der an der Bernauer Straße in Berlin seinen Standort hat. Das klingt, als wenn die Berliner Mauer wieder aufgebaut werden soll, betrifft aber nur ein kleines Gebiet, das demnächst um die Gedenkstätte Berliner Mauer weiterentwickelt wird. „Damit ziehen sie Touristen an und damit verdienen sie angeblich Geld. Ob das klappt?“ fragt der Händler, der dann wegmuss, skeptisch.

Solche Konflikte des Platzmachens und Platzschaffens beleuchtet das vielschichtige künstlerische Forschungsprojekt „Die Migration von Räumen: Placemaking im Fokus von Migration und Mauerfall“. Seit 2008 ist die Künstlerin, Fotografin und Stadtforscherin Stefanie Bürkle mit ihrem teils 16-köpfigen Team dabei, sich dem Berliner Mauerfall aus Migrantensicht zu nähern. Persönliche Perspektive von Vietnamesen, Polen, Türken und Ukrainern wurden in fast 40 Interviews eingefangen und ermöglichen, die deutsch-deutsche Geschichte im Spiegel ihrer Erzählungen zu reflektieren.

Der Kalte Krieg

Extrem verschiedene Erfahrungen sind dabei zu Tage gekommen, unweigerlich aber auch Bestätigungen bestimmter Klischees. So sind Vietnamesen, ob Boat People oder Vertragsarbeiter der DDR, wie keine andere Migrantengruppe durch die Auswirkungen des Kalten Krieges geprägt worden. Das vietnamesische Leben in Berlin lässt sich nicht losgelöst von der Trennung in Nord- und Südvietnam denken, die sich in der Ost-West-Teilung widerspiegelte.

Ein guter Teil der Vertragsarbeiter blickte sehnsüchtig vom Osten dem Kapitalismus entgegen und fand sein Kommen großartig. Mit Begeisterung wurde der plötzlich mögliche Kontakt mit den eigenen Landsleuten begrüßt. Es gab Hilfsaktionen von Vietnamesen im Westen für die im Osten, spontan und mit einer Euphorie, die heute verflogen ist. „Es findet kein Austausch statt, man lebt wieder völlig separiert,“ meint ein 50-jähriger Südvientnamese, der bei Radio Multikulti arbeitet.

„Die Ossis waren ja auch Bürger zweiter Klasse. Als die Ossis kamen, waren wir aber Bürger dritter Klasse.“ Der Eindruck, nach der Wende vom zweiten auf den dritten Platz gerutscht zu sein, wird mehr oder weniger von allen interviewten Türken geteilt. Eine Schmuckladenbetreiberin in Prenzlauer Berg meint allerdings: „Andererseits haben wir uns auch gefreut. Es hieß immer: die Türken, die Türken, die Türken, und plötzlich hieß es: die Ossis, die Ossis, die Ossis. Mittlerweile weiß ich nicht mehr, wer als schlimmer gilt.“

Polnische Vorleistung

Gänzlich unberührt von der mentalen Depression nach dem Mauerfall gibt sich nur ein türkischer Immobilenentwickler, der erst nach der Wende kam und in Friedrichshain erfolgreich Luxussanierungen betreibt. Von den polnischen Befragten wird die Wiedervereinigung durchweg als Folge, wenn nicht gar als direktes Verdienst der polnischen „Vorleistungen“ gedeutet. Die weit verbreitete These heißt: „Ohne die Solidarność hätte es den Mauerfall nie gegeben.“

Etwas über die Raumwahrnehmung der Befragten zu erfahren, darüber, wonach sie ihre Aufenthaltsorte aussuchen oder wie sie zu diesen stehen, ist ein weiterer Untersuchungsaspekt. Bei Ukrainern und Polen fiel eine Abneigung gegenüber dem Ostteil der Stadt auf. „Es gab schon Löcher in der Mauer, wir waren auf der Westseite, nicht auf der Ostseite. Ich habe dann meinen Kopf ins Loch gesteckt und hab auf dieses graue Ostberlin geblickt. Es war furchtbar hässlich, Ostberlin. Es sah aus wie Szczecin“, beschreibt eine 50-jährige polnische Putzfrau ihr mentalräumliches Empfinden. An das eigene graue Land möchte sie scheinbar nicht erinnert werden.

Die interviewten Vietnamesen nehmen den Berliner Stadtraum hingegen pragmatisch und wirtschaftlich wahr. Sie haben einen Blick dafür, wo sich eine Lücke auftut und ein Imbisswagen Platz hat. Nach der Wende sind sie zunehmend erfolgreicher geworden und etablierten sich mit Restaurants hinter festen Mauern in Charlottenburg und Mitte.

„Placemaking“ ist Teil der von Heinz Stahlhut und Guido Fassbender kuratierten Gruppenausstellung „Berlin 89/09 – Kunst zwischen Spurensuche und Utopie“, die am 17. September in der Berlinischen Galerie eröffnet (www.berlinischegalerie.de). Am 5. November folgt dann die Einzelausstellung „Placemaking | Mapping, Migration und Mauerfall“ im Projektraum für Kunst und Wissenschaft der Schering Stiftung. Stefanie Bürkle zeigt hier in einer begeh- und hörbaren Installation die Ergebnisse des gesamten Kunstprojekts. Zur Ausstellung in der Schering Stiftung erscheint ein mehrsprachiges Spiel- und Mitmach-Buch mit Textbeiträgen zum Themenkomplex Raum und Migration, zahlreichen Abbildungen, den Interviews, einem Migrationsspiel, Memory und Faltplänen (www.scheringstiftung.de). Verschiedene „Guerilla Screenings“ von „Placemaking“ finden dann in den ursprünglichen Produktionsorten Kreuzberg, Lichtenberg, Marzahn und Wedding statt (www.placemaking.de). Anfang November wird „Placemaking“ im Hebbel am Ufer/HAU 2 in voller Länge einmalig als Public Viewing gezeigt (www.hebbel-am-ufer.de).

Wie selbstverständlich docken dabei mitgebrachte Räume an die wechselhaften urbanen Texturen an und finden im schnellen Stadtwandel seit 1989 immer neue Plätze. Das vietnamesische Großhandelszentrum liegt auf einer Gewerbebrache in Lichtenberg, daneben wurde ein asiatischer Gemüsegarten angelegt.

Türkische Gärten

Solche Orte bilden einen weiteren Aspekt des Projekts. In Kreuzberg gibt es zum Beispiel einen türkischen Eigenbau mit Garten, der sich in Mauernähe entwickelte und in der neuerlichen Zentrumslage fast Museumscharakter besitzt. Bürkles Bildwahl geht es nicht darum, die Interviews direkt zu illustrieren, vielmehr erzählt sie auf visueller Ebene eine ähnliche, aber nicht deckungsgleiche Geschichte. Ihre Auswahl nimmt nicht nur Orte, die dort entstanden sind, wo die Mauer einmal war, sondern allgemeiner auch Brachen, blinde Flecken und Zwischenräume ins Blickfeld.

„Zwischenorte geben einen Blick auf die Stadt frei, den es so sonst nicht gibt.“ Es sind diese Randzonen, an denen Bürkle eine Art Archäologie der Gegenwart und des Wandels betreibt. „Hier lassen sich gesellschaftliche Zustände visuell abrufen und erschließen, die sonst hinter der intakten Fassade verschlossen liegen.“ Am Rosenthaler Platz zum Beispiel „kann die Stadt noch gelesen werden; ist aber der Abriss der Imbisse und Blumenstände abgeschlossen und die Baulücke gefüllt, geht das nicht mehr“. Bürkle interessiert genau die Zeit vor dem Verschluss; den Moment vor dem Verschwinden empfindet sie als den spannendsten.

Eine Verquickung zwischen den Bildchoreografien und Interviews ist derzeit in Arbeit. Die so erzeugte sinnliche Erfahrung soll das Thema Migration und Mauerfall wenn möglich potenzieren. Eines ist Bürkle aber bereits jetzt deutlich geworden: „Gerade in Berlin stellt sich nicht nur die Frage nach einer Anpassung oder Integration der Migrantinnen, sondern auch die der Veränderung des ‚deutschen‘ Selbstverständnisses von Stadtkultur in der Wechselbeziehung mit den einst ‚fremden‘ Einflüssen.“ Die Frage nach der Integration schwingt in ihrem Projekt indirekt mit. Es sieht ganz danach aus, als wenn die migrierten Räume bereits ein fester Teil unseres Stadtverständnisses sind. „Unbewusst gehören sie dazu, denn Raum wird von allen gestaltet. Normalerweise werden aber weniger die Räume als die Menschen thematisiert. Die Räume passen sich eigentlich ganz wunderbar in das Stadtbild ein.“

www.placemaking.de