Was uns Europa möglich macht

In Stettin lebt der Deutsche vom Interesse der Polen an seinem Land

Norwegen, Spanien, Großbritannien und Deutschland – in diesen vier Ländern hat der Pole Krzysztof F. schon sein Glück gesucht. Der aus Police bei Stettin stammende Handwerker konnte schon seit Jahren keine Arbeit mehr in seinem Heimatland finden. Wenn ihm das Arbeitsamt zu Hause doch mal einen Job angeboten hat, war der Lohn so niedrig, dass er und seine Familie damit nicht hätten überleben können. „Ich habe zwei Kinder, meine Frau ist auch seit Jahren arbeitslos“, sagt der 44-Jährige, „ins Ausland zu gehen, war für mich die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen.“

Seit einem Jahr kann Krzysztof F. legal in den Ländern der EU arbeiten. Früher blieb ihm nur die Schwarzarbeit. Damals ackerte er auf dem Potsdamer Platz. Schwarzarbeit hin oder her – rückblickend ist er stolz, dass er auf dem größten Bauplatz in Europa mitmachen konnte. „Mein Neffe war dort Ingenieur“, erinnert er sich.

Nach der EU-Osterweiterung vor einem Jahr machte er sich erst mal in Spanien als Handwerker selbständig. Vier Monate arbeitete er dort auf verschiedenen Baustellen. Doch die Löhne in Spanien sind niedriger als in Deutschland. Also ging er vor ein paar Wochen nach Berlin zurück und ließ sich als selbstständiger Bauhandwerker bei der Handwerkskammer eintragen. Hier verdient er zwischen acht und zehn Euro die Stunde. Und Berlin hat noch einen Vorteil: Die deutsche Hauptstadt ist von Police nur 160 Kilometer entfernt, Krzysztof F. kann jedes Wochenende nach Hause fahren.

Mit der deutschen Bürokratie hat der Bauhandwerker so seine Erfahrungen gemacht: Er hat einen polnischen Abschluss als Elektriker, aber keine Meisterprüfung abgelegt. In vielen EU-Ländern darf er trotzdem Kabel verlegen und Anschlüsse löten. In Deutschland jedoch kann er mit seinem Abschluss nicht als selbstständiger Elektriker tätig sein, denn in diesem Beruf gilt der Meisterzwang: Jeder noch so kleine Betrieb muss einen Meister beschäftigen. „Ich habe meine Berechtigung ins Deutsche übersetzt, aber die Handwerkskammer hat den Abschluss trotzdem nicht akzeptiert. Das ist eine große Ungerechtigkeit“, klagt er. Aber dennoch: „Auch als Bauarbeiter kann ich hier gut verdienen.“

60 Stunden arbeitet Krzysztof pro Woche, baut Dachgeschosse aus und legt Fliesen in Badezimmern, um seiner Familie zu Hause ein gutes Leben zu sichern. In Polen würde er für diese Arbeit höchstens zwei bis drei Euro pro Stunde verdienen – hier bekommt er mehr als das Dreifache. In Berlin muss er zwar für seine Unterkunft auch Miete zahlen, aber die Einzimmerwohnung im Bezirk Neukölln kostet ihn nur 200 Euro im Monat. Lebensmittel wie Fleisch, Wurst und Gemüse bringt er aus Polen nach Berlin mit, auch das spart Geld.

Mit der Arbeit in Deutschland ist er zufrieden – nur die deutschen Kollegen, die ihm oft zu verstehen geben, dass Leute wie er den Arbeitsmarkt kaputtmachten, bereiten ihm Unbehagen. „Sie betrachten uns als große Konkurrenz, genau wie die Russen, die noch für weniger Geld als die Polen arbeiten können.“

Später einmal nur noch in seiner polnischen Heimat zu leben, kommt für ihn nicht in Frage. Wenn sich eine Gelegenheit ergibt, würde er am liebsten mit seiner Familie auswandern: Nach Norwegen.

MONIKA STEFANEK

Martin Hanf ist in mehrerer Hinsicht ein Exot. Geboren wurde er in Buenos Aires, als Sohn eines Deutschen und einer Finnlandschwedin. Mit dem Vater sprach er Deutsch, mit der Mutter Schwedisch, mit der Hausangestellten Spanisch. Als er drei Jahre alt war und die Familie nach München zog, reagierte er auf den bayerischen Dialekt mit einem mehrmonatigen Schweigen. Jetzt ist er 32 Jahre alt und hat längst die Sprache wiedergefunden. Und eine weitere dazu gelernt: Polnisch. Er sitzt in einem Café in Stettin und sagt nicht ohne Stolz: „Ich bin meine deutsche Ich-AG in Polen.“

Während es sehr viele Polen nach Deutschland zieht, ist Martin Hanf einer der 31 offiziell in Stettin registrierten Deutschen, die dort ihren Wohnsitz und Arbeitsplatz haben. Seit fünf Jahren lebt er jetzt an der deutsch-polnischen Grenze. „Stettin ist genau meine Stadt“, schwärmt er.

Es war kein direkter Weg dort hin. Martin Hanf studierte in Trier Politik und Geschichte. Ein auf Polen spezialisierter Professor weckte sein Interesse an dem Land und der Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Bald begann er sich auch für die Sprache zu interessieren. Nach einem Kurs in Krakau merkte er aber, dass ihm Polnisch „sehr, sehr schwer“ fiel. Er ging nach Berlin, um näher an Polen zu sein und bewarb sich für Austauschprogramme, um direkt in das Land seiner Träume zu kommen.

Vor fünf Jahren kam er mit einem Einjahresvertrag als Sprachlektor an eine private Verwaltungshochschule in Stettin. Und war sofort begeistert. Die Faszination zweier Kulturen, die Nähe zu Skandinavien und Berlin. Der einzige Nachteil in den Jahren bis zum EU-Beitritt Polens: „Ich hab mich oft in einer juristischen Grauzone gefühlt.“

Mit dem Mai 2004 wurde sein Leben als Ausländer leichter. Martin Hanf konnte sich innerhalb weniger Wochen selbstständig machen. Mittlerweile spricht er sehr gut Polnisch und hat als Deutschlehrer- und lektor, Mittler und Organisator deutsch-polnischer Projekte mehrere Auftraggeber. „Ich bin fest etabliert in Stettin“, sagt er. Unter seinen Privatschülern sind viele Ärzte, die sich auf vakante Stellen im Nachbarland bewerben wollen und deshalb Deutsch bei einem der wenigen Muttersprachler in Stettin lernen.

Für Martin Hanf bedeutet das Leben in Polen viele Vorteile, die ihn einige geklaute Autoradios, die Korruption, über die er täglich in der Zeitung liest, und die Autofahrer, die gerne bei Rot über die Ampel fahren, vergessen lassen. „Statt einer von vielen Osteuropaexperten in Berlin bin ich in Stettin einer von wenigen.“ Zudem begegnen ihm die Polen mit viel Offenheit und Sympathie. „Sie schätzen es hoch ein, wenn ein Ausländer ihre Sprache spricht.“ Er gehört in Polen, wo ein Euro etwa vier Zloty sind, zu den Besserverdienenden. Wie viel er bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von etwa 30 Stunden verdient, weiß Hanf nicht auf Anhieb. Er holt einen Taschenrechner raus. „Nach Abzug von allem habe ich etwa 1.200 Euro.“ Er hat mit seinen 32 Jahren bereits eine Eigentumswohnung – in München hätte er das nie geschafft.

Seine weitere Zukunft sieht Martin Hanf in Stettin. 2003 hat er geheiratet. Natürlich eine Polin, wie sollte es anders sein. Im Juni wird er Vater. Bei der Suche nach einem Namen, der sowohl im Deutschen als auch im Polnischen gut auszusprechen ist, wurde das Paar in der schwedischen Sprache fündig. Niklas soll das deutsch-polnische Kind heißen. Mikołaj ist die polnische Entsprechung.BARBARA BOLLWAHN

Der Traum lag in der Familie und wartete darauf, gelebt zu werden. „Schon mein Vater wünschte sich, im Ausland zu arbeiten“, erzählt Ilona Adomaviciute, „er wäre stolz auf mich, hätte er erlebt, was ich geschafft habe“.

Die 32 Jahre alte Litauerin aus Vilnius hat sich im März in Berlin selbstständig gemacht, als „Musiklehrerin“ und „Kulturmanagerin“. Ein eigener Einkommensnachweis, zusätzlich eine Bescheinigung der Mutter in Vilnius, dass sie im Zweifelsfall für den Unterhalt der Tochter aufkäme, genügten – die musikalische Frau mit den lebhaften braunen Augen kann jetzt als selbstständige Gewerbetreibende in Deutschland bleiben.

„In Vilnius hätte ich keine Zukunft gehabt“, sagt Adomaviciute. Als 21-jähriges Au-pair-Mädchen kam sie nach Deutschland. Damals hatte sie bereits ein zweijähriges Studium an der Musikakademie Vilnius hinter sich, im Hauptfach Dirigieren. Ihr Vater war Pianist an der Philharmonie in Vilnius gewesen, schon als Vierjährige hatte die kleine Ilona auf dem Familienklavier Marke „Roter Oktober“ herumgehämmert. „In Litauen sind die Menschen sehr musisch“, erklärt sie, „dort können viel mehr Leute Klavier spielen als in Deutschland“.

Sie konnte sich in Deutschland als Musiklehrerin selbstständig machen

Auf die Au-pair-Stelle in Kiel folgte ein Hochschulstudium in Hamburg mit dem Berufsziel Musiklehrerin. Die norddeutsche Mentalität gefiel ihr, „die Leute dort sind ein bisschen wie in Litauen, eher kühl, ein wenig hochnäsig“. Um sich das Studium zu finanzieren, bügelte Adomaviciute in Wäschereien und legte in Druckereien Werbeprospekte in Zeitungen ein. Vor allem aber gab sie Klavierstunden, brachte jungen Schülerinnen und Schülern Mozart und Tschaikowsky bei und leitete Chöre, die deutsche Volksweisen sangen.

Die Mitglieder eines Rentnerchores in Hamburg erzählten ihr einmal von ihren Kriegserlebnissen in Russland, „das war merkwürdig, schließlich bin ich selbst die Enkelin eines Kriegsveteranen“.

Nach der Hamburger Universitätszeit hängte Adomaviciute noch ein Zusatzstudium an der Hanns-Eisler-Hochschule Berlin mit einem Abschluss in Kulturmanagement dran. Seitdem hat sie Musik- und Kunstveranstaltungen mitorganisiert und in Kulturaustauschprojekten mitgewirkt.

Die hiesige Bürokratie allerdings erwies sich für Adomaviciute als ermüdend und bedrohlich. Da war das Gezerre um die Arbeitsgenehmigung für ausländische StudentInnen, die offiziell nur 90 Tage im Jahr jobben dürfen. Dann wollten ihr die Behörden zuerst nicht gestatten, noch ein zweites Studium aufzunehmen. Hinzu kommen die immergleichen Sprüche, dass Ausländer die Jobs der Deutschen gefährden. „Neulich stieg ich in ein Taxi und auch da klagte der Fahrer, er habe studiert und müsse jetzt Taxifahren und Leute wie ich nehmen den Deutschen die Arbeit weg.“

Viele Litauer bevorzugten als Ausreiseziel inzwischen die Niederlande, England, Irland oder Australien. Deutschland stehe nicht mehr oben auf der Wunschliste, was auch an der lahmenden Wirtschaft liege.

Trotzdem ist sie zufrieden. „Viele Leute hier haben mich unterstützt“, sagt Adomaviciute und scherzt: „Außerdem gibt es doch den Spruch: Wo die Hölle ist, da ist auch der Weg“. Und das gilt auch für das Traumland Deutschland. BARBARA DRIBBUSCH