Partei des Fortschritts

SPD Matthias Machnig lässt diskutieren. „Welchen Fortschritt wollen wir? Neue Wege zu Wachstum und sozialem Wohlstand“ mit Beiträgen von Heiner Flassbeck, Claus Offe und Christoph Butterwegge

Im Januar 2011 beschloss die SPD-Führung einen Programmentwurf mit dem Titel „Neuer Fortschritt und mehr Demokratie“. Mit diesem Slogan wird die Partei wohl auch den nächsten Bundestagswahlkampf bestreiten. Abwegig ist das nicht, denn seit ihrer Gründung 1863 bewegt sie sich programmatisch im Windschatten des Fortschritts und hatte mit Karl Kautsky einen Parteitheoretiker, der sich seinen Marxismus als Fortschrittstheorie zurechtlegte. Der erste Satz des Entwurfs lautet denn auch mit einiger Berechtigung: „Die Sozialdemokratie ist seit ihren Anfängen Partei des gesellschaftlichen Fortschritts.“

Das Problem ist nur, dass sich der Fortschritt – im Singular verstanden als geheimes Subjekt der Geschichte – längst als janusgesichtig erwiesen hat: Aus dem Zukunftsversprechen ist in mancher Hinsicht eine Katastrophendrohung geworden. Der thüringische Wirtschaftsminister Matthias Machnig (SPD) hat in seinem Buch zwanzig Antworten von Politikern, Journalisten und Intellektuellen gesammelt, die sich mit den wechselnden Gesichtern des Fortschritts auseinandersetzen und Konturen eines neuen Fortschrittskonzepts skizzieren.

Zu den herausragenden Beiträgen gehören die Essays von Claus Offe, Christoph Butterwegge, Albrecht von Lucke, Michael Hartmann und Heiner Flassbeck. Claus Offe entwickelt konsistent die Notwendigkeit eines „defensiven Begriffs des Fortschritts“, der die „desaströsen Konsequenzen“ des Fortschritts beim Konsum sowie bei Wachstum und Vollbeschäftigung reflektiert und diesem Fortschritt gegenüber eine „konservative Haltung“ entwickelt. Der Verbrauch von natürlichen Ressourcen darf nicht länger steigen.

Albrecht von Lucke zeigt, dass jedes Nachdenken über Fortschritt ins Leere läuft, das sich den Fragen nach dem Wozu und dem Wohin nicht stellt. Michael Hartmann und Christoph Butterwegge analysieren das Schicksal des sozialen Fortschritts unter den Regierungen von Rot-Grün bzw. Schwarz-Gelb. Mit dem Schröder-Blair-Papier bekannten sich Sozialdemokraten dazu, „das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung“ umzubauen. Die Ergebnisse dieser Politik sind bei Hartmann nachzulesen.

Heiner Flassbeck analysiert die makroökonomischen Konsequenzen einer Politik, die der Deflation entkommen möchte, indem sie die Binnennachfrage durch Lohnsenkungen schwächt und so zur „japanischen Krankheit“ führt: seit 20 Jahren keine Lohnzuwächse mehr.

Gegenüber diesen Beiträgen fallen diejenigen der Politiker ab. Sigmar Gabriels Einsicht etwa, „natürlich brauchen wir wirtschaftliches Wachstum, um den Fortschritt neu zu gestalten“, bleibt konturlos, denn das Problem besteht gerade darin, dass wirtschaftliches Wachstum allein keinen Fortschritt garantiert. Keiner der sozialdemokratischen Autoren übertrifft die Einsichten, die Oskar Lafontaine, den keiner erwähnt, bereits 1985 unter dem Titel „Der andere Fortschritt“ veröffentlicht hat. Lafontaines Fazit: „Wer dem anderen Fortschritt zum Durchbruch verhelfen will, muss der SPD zum Umbruch verhelfen.“

Für Sigmar Gabriel „muss“ seine SPD den „neuen Fortschritt“ „endlich“ verwirklichen. Seine Vorliebe für das Wort „endlich“ und das Modalverb „müssen“ verrät Ungeduld angesichts des konservativen Krisenmanagements: „Politik muss endlich wieder das Ganze in den Blick nehmen, damit der drohende Zerfall der Gesellschaft nicht weiter fortschreitet.“ Ob der „neue Fortschritt“ den alten am Fortschreiten hindert? RUDOLF WALTHER

Matthias Machnig (Hg.): „Welchen Fortschritt wollen wir? Neue Wege zu Wachstum und sozialem Wohlstand“. Campus Verlag, Frankfurt 2011, 252 Seiten, 22,90 Euro