Landschaft aus Felsnadeln

Der Nationalpark Sächsische Schweiz ermöglicht den Blick in die Vergangenheit. Natur Natur sein lassen – das kann auch bedeuten, der Natur wieder auf die Sprünge zu helfen

von ANNETTE JENSEN

Aus einem sanft ansteigenden Stoppelfeld ragt unvermittelt ein riesiger, schroffer Berg: Dicht an dicht stehen schwarzgraue Felstürme. Zusammen bilden sie ein hohes Plateau. Der Aufstieg beginnt zwischen Buchen und Fichten. Schnell rücken die Wände immer näher, die Treppen werden schmaler und steiler und verwandeln sich an manchen Stellen in Leitern. Kleine Birken und Kiefern klammern sich an Felsvorsprüngen fest; wo der Stein Risse hat, nisten Farnbüschel. An einigen Ecken können die Wanderer der Berührung mit den schmirgeligen Wänden nicht ausweichen oder sie müssen sich ducken: Herabgestürzte Brocken haben sich verkeilt und bilden niedrige Dächer. Nach einigen hundert Stufen ist der Pfaffenstein bezwungen. Schnaufend erreichen die Besucher den Meeresgrund.

Vor 100 Millionen Jahren stand das gesamte Gebiet der Sächsischen Schweiz unter Wasser. Damals bildete sich am Grund aus Quarzkörnchen und Tonablagerungen eine 600 Meter dicke Sandschicht, in die auch Muscheln, Austern und Seesterne eingeschlossen wurden. Als sich gegen Ende der Kreidezeit hier und in der gesamten Umgebung die Erdmassen hoben, floss das Meer ab und zurück blieb eine flache Dünenlandschaft. Deren letzte Reste sind heute die höchsten Erhebungen im Elbsandsteingebirge: die Tafelberge und tausende, mehr oder weniger vereinzelt stehende Felssäulen, an denen sich die mal meterdicken, mal nur wenige Zentimeter messenden Ablagerungsschichten aus dem Meer noch exakt ablesen lassen.

Erneut war es das Wasser, das die Landschaft formte. Flüsse und Bäche frästen sich senkrecht in den porösen Untergrund und bildeten Cañons; Regen und Baumwurzeln griffen von oben an und sprengten weitere Teile des Felsens weg. So sind die faszinierenden Felsnadeln im Elbsandsteingebirge nicht eigentlich Erhebungen, sondern letzte Teile einer Landschaft, die durch Erosion zerfallen ist – und immer weiter zerfällt. An der Bastei, dem touristischen Knotenpunkt der Region, können die Besucher eine noch sandgelbe, etwa 25 Meter hohe Abbruchstelle von oben aus bestaunen und zugleich auf die 200 Meter unter ihnen fließende Elbe blicken.

Der Norden des Landkreises Sächsische Schweiz ist heute Nationalpark – ausgewiesen durch die DDR-Volkskammer unmittelbar vor ihrer Auflösung im Herbst 1990. Inzwischen setzt er sich auf tschechischer Seite in fast noch einmal gleicher Größe fort. Neben den einmaligen geologischen Formationen soll dadurch ein Lebensraum geschützt werden, in dem Wanderfalken, Uhus, Schwarzstörche, Siebenschläfer und Feuersalamander vorkommen, aber auch das in Höhlen wachsende, scheinbar phosphorisierende Leuchtmoos oder die gelbgrüne Schwefelflechte – eine Symbiose aus Pilz und Alge. In den Schluchten und Gründen des Elbsandsteingebirges herrscht zudem ein außergewöhnliches Kellerklima: Dort ist es nicht nur sehr feucht, sondern auch durchschnittlich zehn Grad kälter als weiter oben. So wachsen hier Bäume, die normalerweise nur in viel höheren Lagen existieren können.

Natur Natur sein lassen – das ist das offizielle Credo aller Nationalparks. Doch was auf den ersten Blick als einfache Anweisung zum Nichthandeln erscheint, löst unter Naturschützern, Politikern und Tourismusverbänden intensive Diskussionen aus. Schließlich ist ja auch der gegenwärtige Zustand keineswegs natürlich. Seit 1811 die geregelte Forstwirtschaft eingeführt wurde, dominiert in den Wäldern des Elbsandsteingebirges die schnell wachsende Fichte, die vorher nur etwa ein Prozent der Bestockung ausmachte. Gegenwärtig sind ihre Bestände durch Borkenkäfer akut gefährdet. Klar ist, dass im Nationalpark Sächsische Schweiz befallene Bäume gefällt und geschält worden wären, um den restlichen Bestand zu schützen. Die Macht der Tourismusverbände und die mangelnde Unterstützung durch die Landesregierung hätten einen anderen Umgang schlicht nicht zugelassen. „Ohne Zweifel werden die Fichtenbestände im Elbsandsteingebirge irgendwann zusammenbrechen. Wir versuchen aber, das hinauszuzögern“, beschreibt Dirk Franko von der Nationalparkverwaltung die Gratwanderung zwischen den Grundsätzen des Naturvorrangs und den wirtschaftlichen Interessen in der Region. Immerhin soll innerhalb von 30 Jahren die so genannte Kernzone, aus der sich der Mensch ganz heraushält, auf 75 Prozent der Nationalparkfläche ausgedehnt sein.

Natur Natur sein lassen – das kann nach Interpretation der Nationalparkverantwortlichen in Einzelfällen auch bedeuten, der Natur wieder auf die Sprünge zu helfen. Wie Pollenanalysen aus Mooren belegen, stellte die Weißtanne hier in früheren Jahrhunderten fast ein Fünftel des Baumbestands. Doch es braucht ein Menschenleben, bis aus einem Weißtannenschößling ein fortpflanzungsfähiger Baum geworden ist, und so viel Zeit wollten und durften frühere Förstergenerationen nicht aufbringen. So gibt es heute im Elbsandsteingebirge gerade noch 600 Altbäume – und die stehen häufig auch noch so weit auseinander, dass es ihre schweren Pollen ohne menschliche Unterstützung nicht bis zum nächsten Artgenossen schaffen würden. Zwar können sich Weißtannen auch selbst bestäuben. Doch die genetische Verarmung würde über kurz oder lang zum Aussterben in der Region führen.

Deshalb werden jährlich etwa 20.000 Weißtannen im Nationalpark ausgepflanzt. Derartige Programme sehen sich gelegentlich allerdings mit absurden politischen Hindernissen konfrontiert: Erst seit Tschechien im Mai der EU beigetreten ist, darf nun auch Saatgut aus der unmittelbar angrenzenden böhmischen Schweiz verwendet werden; das deutsche Forstsaatgutgesetz verhinderte zuvor solche grenzüberschreitende Fortpflanzungshilfe.

Auch für mehrere Tierarten gibt es inzwischen Rückkehrprogramme. Nachdem der einst für die Gegend typische Wanderfalke komplett verschwunden war, brüten jetzt wieder mehrere Paare an den Klippen. Und wer Glück hat, kann zum ersten Mal seit den 30er-Jahren wieder Lachse springen sehen, wenn sie im Herbst zum Laichen bachaufwärts wandern.

Der Nationalpark Sächsische Schweiz ist ein guter Ort, um über die Zeit zu sinnieren – und die menschliche Ungeduld, die diese Landschaft in den letzten beiden Jahrhunderten stark geprägt hat. Ein Zurück zu den Ursprüngen kann es dabei nicht geben; auch zuvor war die Natur niemals ein Zustand. Manche Veränderungen gehen sehr rasant, andere brauchen Millionen von Jahren. Diesen Wandel durch Werden und Vergehen kann der Besucher im Elbsandsteingebirge im Augenblick der Gegenwart erkunden – oder einfach in Ruhe auf sich wirken lassen.