Waldhof ringt um Klassenerhalt

AUS MANNHEIM HEIKE HAARHOFF

Das nächste Spiel ist immer das schwerste.

Sepp Herberger

Sie waren zu Hause fünf Kinder. Die Mutter zog sie auf. Der Vater verdiente das Geld, lebenslänglich an einer Walze für Gussglas. Sie hatten eine Werkwohnung, die lag in derselben Straße wie „die Spiegel“, so nannten die Arbeiter die Glasfabrik, weil dort einst auch Spiegel hergestellt worden waren, und die Wohnstraße hieß dann auch bloß „Spiegelfabrik“. Am Wochenende gingen sie zum SV Waldhof Mannheim, Bundesliga, höchste Spielklasse, die Wundermannschaft aus ihrem Stadtteil, dem Waldhof, und einmal im Jahr schallte es in ihre Wohnung, dass die Arbeiter solidarisch beieinander stehen müssten, das war dann der 1. Mai. Es war ein bescheidenes Leben, aber jeden Sommer fuhr die ganze Familie in Urlaub, nach Österreich oder in den Schwarzwald, und als die Kinder 18 wurden, sagte der Vater ihnen, sie wüssten ja, dass ein anständiger Arbeiter seiner Firma die Treue hält und was sie wählen müssten, damit das so bleibt. Das war dann die SPD.

Andreas Parthenschlager lehnt an seinem Gartentor, Spiegelfabrik 323, und zieht den Mund zu einem spöttischen Grinsen zusammen. Es ist kein Märchen, das er erzählt, es ist eine wahre Geschichte, seine Familiengeschichte, und sie hat sich zugetragen vor nicht allzu langer Zeit, Parthenschlager ist erst 38 Jahre alt. „Kann man sich heute kaum vorstellen, dass es so ein Leben mal gab, was?“, sagt er. Dabei hat Andreas Parthenschlager jeden Rat seines Vaters gewissenhaft befolgt. Der Vater gab nur weiter, was er wiederum bei SPD und Gewerkschaft gelernt hatte, das konnte ja nicht falsch sein. Und trotzdem ist alles anders gekommen. „Mein Leben“, sagt er, „ist ein bisschen wie diese Straße.“ Sein Arm beschreibt einen Halbkreis, von den lachsrosa Flachdachwohnsilos aus den 60er-Jahren über die Schrebergärten hin zur Fabrik und weiter zum Spiegelschlössl, der Kantine, hin zu einer Reihe heruntergekommener Werkwohnungen aus dem 19. Jahrhundert. Ein wildes Sammelsurium verschiedener Baustile und Nutzungen und kein Hinweis darauf, wohin die Entwicklung geht.

Arbeit weg, Familie weg

Arbeitslos geworden ist der Kfz-Schlosser Andreas Parthenschlager vor eineinhalb Jahren, als es nach diversen unfreiwilligen Firmenwechseln und Kündigungen selbst mit den Zeitverträgen inmitten der badischen Industriestadt Mannheim für ihn nicht mehr klappte. Kurz danach war er auch die Familie los, das Geld fehlte, die Unsicherheit wuchs, der Streit eskalierte. Die Frau nahm die vier Kinder mit. Er wehrte sich nicht. Er musste erst die Orientierung wiederfinden.

Parthenschlager glaubt an nichts mehr. Nicht an die Gewerkschaft, aus der ist er ausgetreten, weil sie ihm mit ihrer Zustimmung zu nicht verlängerbaren Zeitverträgen die Gewissheit einer linearen Karriere genommen hat, und schon gar nicht an die SPD. Und deren neueste Kapitalismuskritik? Lässt die ihn nicht wieder ein bisschen hoffen? Er streift mit der Hand über die Hose, als wehre er eine lästige Fliege ab. „Sprüche“, sagt er. Erwartet die Partei wirklich, dass er sie ernst nimmt seit Hartz IV, seit dieser Beleidigung für alle, die keine Drückeberger sind und trotzdem ohne Job? Die Arbeitslosenquote auf dem Waldhof ist nicht dramatisch höher als der Mannheimer Durchschnitt mit seinen 8,9 Prozent. Aber was heißt das schon? „Sehen Sie sich diese Straße an, dann wissen Sie, wie es um die Arbeiter heutzutage steht“, sagt er.

Diese Straße. 1853 wurde sie gebaut, als hier, in verkehrsgünstiger Lage, wenige hundert Meter vom Altrhein entfernt, die Spiegelmanufaktur Waldhof gegründet wurde, ein Tochterunternehmen der französischen Company St. Quirin et Cirey, Deutschlands erste Spiegelfabrik. 400 Arbeiter aus Elsass-Lothringen brachte das französische Unternehmen damals wegen ihres Know-hows mit und baute für sie und später auch für die deutschen Beschäftigten die älteste Werksiedlung Deutschlands mit eigener Kirche und eigener Schule. Wer hier arbeitete, der war betrieblich renten- und krankenversichert, fast 30 Jahre vor Bismarcks sozialpolitischen Reformen.

Viele dieser Errungenschaften existieren bis heute. Andere Industriebetriebe mit einer stark organisierten Arbeiterschaft, die den Waldhof im Mannheimer Norden ein paar Jahre nach der „Spiegel“ als Standort entdeckten, bieten ähnliche betriebliche Sicherungen, DaimlerChrysler, Roche, das Zellstoffwerk SCA, BASF. Aber was nützen sie, wenn immer weniger Nachbarn sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind? Welchen betriebsinternen Rentenanspruch erwirbt man, wenn der Zeitvertrag auf vier Monate lautet? Welche Lebenspläne kann man mit so einer Perspektive schmieden? Wie sicher kann man sich fühlen, wenn bald jede zweite Werkwohnung gar nicht mehr im Besitz des Werkes ist? Und woran soll man noch glauben, wenn selbst das prominenteste Kind der Straße, Sepp Herberger, der Held von Bern, der Bundestrainer, der Deutschland 1954 zum Fußballweltmeister machte und der Nation ein neues Selbstwertgefühl gab, neun Jahre nur nach dem verlorenen Krieg, wenn dieser Sepp Herberger im Grunde ein Verräter an den eigenen Leuten war?

Seppls Verrat

Die Krise, das ist ja nicht nur die tatsächlich fehlende Arbeit. Die Krise, das ist der Mangel an Vorbildern, die ständige Bedrohung, die Zukunftsangst. Die Krise, das ist das nächste Spiel.

Sepp Herberger. „Seppl Herberger“, verbessert Manfred Brunner, „auf dem Waldhof sagen wir Seppl Herberger.“ Brunner ist 50 Jahre alt, hat das volle, graue Haar zu einem Igelschnitt getrimmt. Er leitet den Kundenservice bei der Saint-Gobain Glass, deren Konzernbestandteil die „Spiegel“ mittlerweile ist, und hat nebenbei ein Faible für Stadtteilgeschichte. Schließlich wohnt er ja auch gleich nebenan, Spiegelfabrik 313. Herberger, erzählt Brunner in seinem Firmenbüro, wurde am 28. März 1897 als Sohn eines ungelernten Spiegel-Arbeiters in der Rue de France 171 geboren; die Straße existiert nicht mehr. 1910 zogen die Herbergers in die Parallelstraße, Spiegelfabrik 134. Dieses Haus steht noch, als Ruine zwar, aber die gesamte Häuserzeile wird derzeit saniert. Eine schlichte Bronzetafel, die sich kaum von der Farbe der Hauswand abhebt, erinnert an das Wirken des Urvaters der deutschen Fußball-Naionaltrainer. „Was erwarten Sie?“, fragt Manfred Brunner. „Liebe? Heldenverehrung? Ein Denkmal?“ Er schüttelt den Kopf. Groß gemacht habe der SV Waldhof Mannheim, dieses Vereinswunder vom Waldhof, das es von ganz unten bis in die Erste Bundesliga schaffte, den Seppl Herberger. Habe ihm, dem Arbeiterkind, Vertrauen geschenkt und eine Chance, weil der SV Waldhof Mannheim immer an die Arbeiterkinder geglaubt habe. Aber dann, 1921, wechselte der Herberger zum VfR Mannheim, ausgerechnet zum VfR, dem Verein der reichen Schnösel aus dem Süden der Stadt – für Handgeld! Manfred Brunner sieht so traurig aus, als wäre das alles nicht vor 84 Jahren, sondern erst vorige Woche passiert. „Mit dem Seppl Herberger identifizieren sich die Leute hier nicht“, sagt er.

Mit wem dann? Schwer zu sagen. Der SV Waldhof? Ist vor Jahren in die Oberliga abgestiegen, kämpft gegen die Pleite, aber leistet sich ein Stadion, so als spielte er längst wieder in der Bundesliga. 27.000 Zuschauer passen rein, zehnmal so viele, wie jemals samstags zum Spiel kommen. „Eine Gurkentruppe ist das“, schimpft Manfred Brunner. Eine, hinter der die Arbeiter vom Waldhof einst standen wie ein Mann und die sich jetzt ein CDU-Mitglied als Vizepräsidenten hält, den Referenten des Landesfinanzministers. Brunner ist schon fünf Jahre bei keinem Spiel mehr gewesen.

Uhren und Kinderschuhe

Und sein eigener Betrieb, die Spiegel? Beschäftigt nur noch 110 Menschen, davon 30 in der Verwaltung, die goldenen Uhren zum 25. Dienstjubiläum sind abgeschafft, die Schuhe für die Kinder der Werkangehörigen zu Ostern auch. Es sind Details, sicher, aber sie prägen das Klima. Standorterhalt ja, aber Neuinvestitionen nur in Wachstumsmärkten, das sei die Strategie des Konzerns, sagt er. Deutschland ist kein Wachstumsmarkt. Die Saint-Gobain Glass beschäftigt weltweit 180.000 Menschen, sie ist der größte globale Baustoffkonzern. Wie soll man da Unternehmensverantwortung gegenüber der Gesellschaft einfordern? Gegenüber welcher Gesellschaft denn unter den vielen?

Manfred Brunner hat jetzt Termine, und so spaziert man zurück zu Andreas Parthenschlager, aber der muss auch weitermachen, sagt er, muss zurück ins Haus, renovieren. Er wohne ja erst seit ein paar Wochen hier in der 323, seit er „drüben“ rausmusste, er zeigt auf die schäbige Wohnungszeile, in der auch Seppl Herberger einst lebte. Elf denkmalgeschützte Reihenhäuser sollen da entstehen, 250.000 Euro das Stück. Die Saint-Gobain Glass hat andere Projekte, als Wohnungen zu verwalten und sich deshalb von ihrem historischen Besitz getrennt. Einige der neuen Eigentümer sollen Seppl-Herberger-Verehrer sein, wohlhabende Fußballspieler von umliegenden Bundesligaclubs.

Andreas Parthenschlager erhielt die Kündigung wegen Umwandlung in Eigentum, als er schon arbeitslos und die Familie weg war. Fast 20 Jahre hatte er in der 151 gewohnt. Da brannten ihm, wie er sagt, die Sicherungen durch. Er lief in die Spiegel, verlangte den Werkdirektor persönlich, schilderte ihm sein Leben, das Leben seines Vaters und brüllte am Ende fast, dass es so nicht gehe: So springt man mit Menschen nicht um!

Andreas Parthenschlager sagt, dass er Glück hatte. Sein neues Heim hat klapprige Fenster, die Elektroleitungen sind marode. Aber das Werk hat ihm zugesichert, dass er dort günstig wohnen kann. Und außerdem im Werk den Gabelstapler fahren darf. Für die Hälfte seines letzten Gehalts als Kfz-Schlosser.