In Deutschland ist Sommer-Zeit

SPD-Chef Müntefering hat das Wort von den „Heuschrecken“, den raubgierigen Investoren, in die Welt gesetzt. Und die Gewerkschaften spüren Aufwind

VON RALPH BOLLMANN

Keiner mochte dem Mann so recht zuhören. Gerade 20.000 Demonstranten waren an jenem 1. Mai vors Berliner Rote Rathaus gekommen, um den Tiraden des DGB-Chefs zu lauschen. „Es darf nicht sein“, wetterte Michael Sommer, „dass die Großkonzerne die Richtlinien der Politik“ bestimmten und die Menschen „mit dem Verweis auf den globalen Wettbewerb erpresst“ würden. Der Beifall war mau, das Echo in den Medien bescheiden. Auch dass der frisch gewählte SPD-Vorsitzende Franz Müntefering in einem Grußwort vor den „ungezügelten Kräften des Marktes“ warnte, interessierte niemanden besonders. Schließlich war er ja gerade erst gewählt worden, um die Basis mit derlei Phrasen zu beruhigen.

Das alles ist jetzt ein Jahr her. Inzwischen hat Müntefering das H-Wort in die Welt gesetzt, Investoren als „Heuschrecken“ gegeißelt. Die Leute sind ermattet vom ständigen Reformgerede, im größten Bundesland ist Wahlkampf. Und auf einmal ist alles völlig anders.

Zu den Gewerkschaftsdemos kamen gestern nicht bloß ein paar tausend Getreue, sondern gleich eine halbe Million. Gewerkschaftsboss Sommer erschien am Wochenende nicht mehr als Ewiggestriger und hoffnungsloser Außenseiter, sondern als einer, der sagt, was alle denken. Noch dazu erklärte Lieblingsfeind Guido Westerwelle die Gewerkschaften zur „wahren Plage in Deutschland“. Zu roten Heuschrecken sozusagen. Besser hätte es für den DGB gar nicht laufen können. „So schön bin ich noch nie zum 1. Mai gefahren“, sagte Sommer auf dem Ausflugsdampfer, der ihn von Heidelberg zur zentralen Kundgebung nach Mannheim brachte.

Dabei hatte sich eigentlich nichts geändert. Der DGB-Chef variierte die Kapitalistenbeschimpfung des Vorjahres nur geringfügig, Müntefering sprang ihm bei, und Kanzler Gerhard Schröder war – wie schon im Vorjahr – auf den Rednertribünen der Gewerkschaft nicht erwünscht. „Es ist besser, wir treten nicht zusammen auf“, bekräftigte Sommer den Boykott. Im Zusammenhang mit Hartz IV sei zu viel passiert. Darüber könne nicht einfach der Mantel des Schweigens gelegt werden.

Das allerdings klang merkwürdig. Hatte der DGB-Vorsitzende nicht erst zu Jahresbeginn angedeutet, gerade diesen Mantel ausbreiten zu wollen – weil sich die Gewerkschaften nicht mit Themen der Vergangenheit beschäftigten? Hatte er nicht sogar erklärt: „Wir können und müssen Sozialabgaben senken“? Offenbar haben Münteferings Heuschrecken auch den Reformer Sommer in Bedrängnis gebracht. Hardliner wie IG-Metall-Chef Jürgen Peters dürfen sich freuen, hat ihnen doch Müntefering mit dem Aussenden des Schädlingsschwarms neue Munition gegen Rot-Grün geliefert. Auch Sommer muss jetzt von Rot-Grün verlangen, die propagierten Mittelchen gegen Heuschrecken tatsächlich einzusetzen. „Jede Kapitalismuskritik hilft nur“, so Sommer, „wenn aus ihr die praktischen Lehren gezogen werden.“ Auf einer Kundgebung in Frankfurt formulierte es Peters ein bisschen knapper: „Den Worten müssen jetzt auch Taten folgen.“

Dass Müntefering Namen der schlimmsten Schädlinge aus dem Investorenlager schon mal zusammentragen ließ, hat sein Generalsekretär gestern zwar mit den Worten dementiert, eine „Heuschreckenliste“ gebe es nicht. Aber das wird dem SPD-Chef auch nicht mehr helfen. Seine eigenen Worte sind jetzt der Maßstab für die Regierungspolitik, und was bei diesem Maßnehmen herauskommt, konnte er bei seinem DGB-Auftritt in Duisburg erleben: Der Mann, der dort mit Eiern auf Müntefering warf, dürfte sich durch die Heuschreckendebatte bestärkt sehen. Auch wenn den grünen Koalitionspartner, der zur Insektenplage lauthals schweigt, an diesem Vorfall vermutlich nur eine Frage interessiert: Freiland- oder Käfighaltung?