die stimme der korrektur: tabubrecherische mogeleien
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In der Redaktion gibt es eine nette Liste. Auf der stehen Begriffe oder Formulierungen wie „allein zu Haus“, „Deal“, „für Wirbel sorgen“, „die Nerven liegen blank“ oder „schillernde Persönlichkeit“. Überschrieben ist die Liste ganz fett mit „TABUS“. All diese Wendungen und Begriffe sollten also in Überschriften und Texten nicht vorkommen, weil sie so abgegriffen, unscharf oder einfach unpassende Bilder sind. Dennoch werden sie immer mal wieder tabubrecherisch hineingemogelt. Wenn wir in der Korrekturabteilung Zeit haben, versuchen wir die Autorin, den Redakteur zu einer Änderung zu bewegen. Und wenn er oder sie Zeit hat und einsichtig ist, wird aus dem Deal vielleicht ein Abkommen oder Vertrag, aus dem Wirbel Unruhe oder Aufsehen und aus der schillernden Persönlichkeit möglicherweise eine zwielichtige Gestalt.

Dabei ist es nicht so, dass es das Tabuisierte unter keinen Umständen geben darf. Kapitän James Cook, Kolonialisierer im Auftrag der britischen Krone, führte das tapu, schlecht in taboo transkribiert, 1777 nach Europa ein. Er hatte es aus Polynesien mitgebracht, wo es „gekennzeichnet“ als Vorrecht eines Herrschers bedeutete. Wie üblich durften also Herrschende, was Beherrschten nicht zugestanden wurde.

Die „Gutmenschen“ finden sich auch auf der Liste. Nicht dagegen die „Tabubrecher“, die den Begriff vom „Gutmenschen“ erst geschaffen haben und Leute mit sozialem Gewissen und verbohrte Linke meinen, die immer noch nicht einsehen wollen, dass der Kapitalismus das Ende der Geschichte ist. Damit begehen diese neuen Rückschrittlichen nun gerade keinen Tabubruch im Sinne von Überschreitung der Refugien Herrschender, sondern sie sind im Wortsinn Hof-fähig.

Was mir ebenfalls auf der TABU-Liste fehlt, ist der Satz: „Religion ist Opium für das Volk“, angeblich von Marx, zumindest aber von Lenin – was beides falsch ist, denn der eine wie der andere schrieb vom Opium „des“ Volkes.

Es scheint, als spiegele sich in diesem Irrtum ein klassisches Missverständnis Intellektueller über die Manipulation der Massen: Danach ist die betäubende Medizin lediglich von oben nach unten zu verabreichen. Marx hielt sie dagegen auch für den „Seufzer der bedrängten Kreatur“.

Angesichts des medialen religiösen Wahns muss diese Bedrängnis an den Herstellungsorten veröffentlichter Meinung derzeit recht groß sein. Religion ist mit Marx eben auch „der Geist geistloser Zustände“.

James Cook wurde übrigens zwei Jahre später wegen Tabubruchs von Eingeborenen umgebracht. Eine schöne Geschichte. ROSEMARIE NÜNNING