Das Palmer-Paradox

DIAGNOSEN Wie tickt die kommende Politikergeneration? Erster im sonntaz-Check: der Grüne Boris Palmer

■ Reihe: Der Sozialpsychologe und Führungskräftecoach Dr. Christian Schneider trifft für die sonntaz Protagonisten der kommenden Politikergeneration. Was treibt sie an? Wie ticken sie? Was ist von ihnen zu erwarten? In der Reihe geht es um die persönliche Tauglichkeit der Entscheider von morgen. Über seine Begegnungen mit den unter 40-Jährigen schreibt Schneider einmal im Monat. Nächste Folge: Katja Kipping von der Linkspartei.

■ Autor: Christian Schneider lebt in Frankfurt am Main. Promovierte bei Oskar Negt. Lehrte an den Universitäten Hannover und Kassel. Forschungen und Publikationen zur Generationengeschichte des Nationalsozialismus und zur Gegenwarts- bedeutung des Holocaust. Richtet nun sein Augenmerk auf die Zukunft und will wissen, was auf uns zukommt, wenn eine neue Politikergeneration nach der übernächsten Bundestagswahl 2017 dieses Land führt.

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Als wir zum Tübinger Schloss hinaufgehen, sagt Boris Palmer zu mir: „Man lebt besser, wenn man sich nicht verstellt.“ Er läuft zielstrebig voran, ich nicke leicht schnaufend. Zu dem Zeitpunkt liegen schon gute anderthalb Stunden Gespräch hinter uns. Nicht im Rathaus, wie ich gedacht hatte, sondern in einem Café, die Köpfe ziemlich dicht beieinander, weil um uns herum das ganz normale Kaffeehaustreiben tobt, ab und zu grüßt jemand im Vorbeigehen. Der grüne Oberbürgermeister lebt unverstellt und bodenständig in „seiner“ Stadt; selbst die Möglichkeit nonchalant mithörender Tischnachbarn scheint ihn nicht zu stören.

Das Erste, was mir an ihm auffällt, ist sein Tempo: im Verstehen und Reden ebenso wie im Handeln. Das Tonband, mit dem ich unser Gespräch aufzeichne, läuft exakt zwölf Sekunden, als er mich fragt, ob ich nicht die Aufnahmequalität überprüfen wolle. Ist er so fürsorglich?, frage ich mich. Oder kontrollierend? Seine Antwort darauf wäre wahrscheinlich: „Ich will einfach, dass es klappt.“ Man könnte es als sein Lebensmotto nehmen. Boris Palmer, 39 Jahre alt, will, dass die Dinge so laufen, wie er es möchte. Er will den Erfolg – unbedingt, jedoch nicht um jeden Preis.

Der Familie hat sein Vater, ein Rebell, alles abverlangt

Boris Palmers Leben ist durch den Willen bestimmt, den Preis nicht zu zahlen, den sein Vater Helmut, der legendäre „Remstalrebell“, für seine politischen Überzeugungen entrichten musste: Die Einmannpartei Helmut Palmer, der sich in 300 Kandidaturen für Bürgermeisterstellen im Ländle aufrieb und dabei sich und seiner Familie alles abverlangte. Die Wahlkämpfe verschlangen Hunderttausende. Als er vor sieben Jahren starb, hinterließ er einen Schuldenberg. Boris Palmer und sein Bruder zahlen bis heute ab.

Doch der höhere Preis war die rastlos laufende Maschinerie, in die er die Familie gezwungen hat. „Familienzeit war in der Regel nicht Freizeit, sondern Wahlkampf, Baumschnitt oder Markt. Also da waren wir zusammen.“ Der Vater betrieb einen Obsthandel und lehrte die Menschen in der Region, wie man Apfelbäume richtig schneidet. Es wurde rund um die Uhr geschuftet, den Söhnen verlangte Helmut Palmer ab, schon als Zehnjährige vollwertige Mitarbeiter seines Marktgeschäftes zu sein, was hieß: „3.00 Uhr aufstehen und zwölf Stunden am Stück arbeiten, dann Vesperpause eine Viertelstunde, länger geht nicht, weil die Kundschaft vor der Tür steht.“

Der Vater als Chef, selbstgerecht und fordernd, alles kontrollierend. Von Fürsorglichkeit keine Spur. Dafür war die Mutter zuständig: eine strikt zweipolige Welt. Auf der väterlichen Seite war sie, das wird deutlich, nicht weit vom Missbrauch entfernt. Grollt er dem Vater, weil er den finanziellen Scherbenhaufen dieses letztlich gescheiterten politischen Lebens wegkehren muss? Zum ersten Mal schaut mich Palmer mit offenem Unverständnis an. Groll? Seine Verblüffung ist echt.

Vielleicht, weil es die andere Seite der Erbschaft gibt. Mit vier Jahren sitzt Boris auf den Schultern des ewig wahlkämpfenden Vaters und schaut in die erhitzte Menge des politischen Publikums. „Diese Veranstaltungen, das war der Punkt, wo es bei mir gezündet hat, wenn der Vater vor 800 Leuten gesprochen hat und die hingen an seinen Lippen, das fand ich begeisternd.“ Er ist kaum zehn Jahre alt, als er selbst, vom Erzeuger angeleitet, öffentlich das Wort ergreift.

Er hat, sagt Palmer, die Methode des Vaters übernommen und weiterentwickelt: anarchisch-schwäbischen Witz mit Sachkenntnis und Offenheit zu kombinieren. Seine von Kindesbeinen an geschulte rhetorische Brillanz resultiert aus der Mischung von Bodenständigkeit und Argumentationslogik auf der unerschütterlichen Basis seiner Überzeugungen. Wenn er redet, dann ohne jeden Zweifel. Und solange er redet, hat er die Logik auf seiner Seite, meist die Lacher – und fast immer den Beifall. Palmer genießt das unverhohlen – was ihn vom Gros der politischen Klasse unterscheidet: Der Politiker sei noch nicht geboren, für den dieser narzisstische Thrill nicht ein entscheidender Antrieb sei, sagt er. Für ihn ist das ebenso selbstverständlich wie das Bekenntnis, sein Handeln strikt instrumentell am Erfolg zu orientieren. Dafür hat er, mühsam für den Sohn dieses Vaters, die Kunst des Kompromisses lernen müssen. Palmer sagt ganz offen, dass seine mittlerweile erprobte Ausgleichsfähigkeit überhaupt nicht seinem Temperament entspricht. Doch für den Erfolg müsse man diplomatisch werden, den anderen zuhören lernen, selbst wenn man es sachlich für Quatsch hält. Was die antrainierte Geduld mit seinem Blutdruck mache, frage ich. Er lacht: „Nix – es ist der Magen.“ Der macht ihm seit fünfzehn Jahren Probleme. Eine Schwachstelle, sagt er, sachlich wie ein TÜV-Prüfer.

Boris Palmer hat Mathematik und Geschichte studiert: eine Natur- und eine Geisteswissenschaft, getrieben vom faustischen Erkenntniswunsch, zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, die Dynamik ihrer Widersprüche zu verstehen. Wenn er von den Schwierigkeiten seiner Familiengeschichte, der miteinander konfligierenden Vater- und Mutterwelt erzählt, bekommt man eine Ahnung davon, wie ernst es ihm damit ist, Gegensätze zusammenzubringen. Fürsorge und Kontrolle, beides gehört zu seinem Programm.

Sein ursprüngliches politisches Motiv, „die Welt zu retten“ - auch da lacht er kurz - , wird, das weiß er, nur Früchte tragen, wenn es in die Logik des politischen Geschäfts eingetragen werden kann. Er hat sie sorgfältig, wenn auch mit Bauchschmerzen, erlernt, ohne dem Grundgedanken abzuschwören. Das macht ihn als Politiker zu einem Grünen, der weder heimlich rot noch schwarz eingefärbt ist. An einer Figur wie Palmer zerbricht das alte Links-Rechts-Schema. Was es ihm in der Partei nicht leicht macht. Sein emphatischer Pragmatismus und die Abscheu gegen überzogene Gesinnungsethik sind den Fundamentalisten aller Couleur verdächtig.

Gegensätze rationalisiert er, Fürsorge und Kontrolle, Treue zu Inhalten und technokratische Kompetenz

Der Adler: im stetigen Kampf um Nahrung

Boris Palmer, der Öko-Logiker, verkörpert das Paradox eines strikt verantwortungsethischen Gesinnungstäters: eine politische Modellfigur des 21. Jahrhunderts. Denn diese Welt ist tatsächlich nur zu retten, wenn einst als unüberbrückbar eingeschätzte Gegensätze zusammengebracht werden. Treue zur Sache und technokratische Kompetenz; heiße Motive und die Fähigkeit ihrer kühlen Transformation in Realität; Koalitionen jenseits von Liebesheiraten und Wahlverwandtschaften. Boris Palmer hat früh gelernt, mit Widersprüchen zu leben. Wohl auch, dass man das heil nur überstehen kann, wenn man eine persönliche Strategie zu ihrer Rationalisierung findet: einen Weg, sie auszugleichen und die Paradoxien des Lebens nicht zu scheuen.

Am Ende unseres Gesprächs – wir sind beim Mittagessen – frage ich ihn, was er sich für ein persönliches Wappentier wählen würde. Seine Verblüffung ist kurz, die Antwort überraschend: den Weißkopfadler. Tatsächlich ein überaus hoheitliches Tier – wer denkt nicht ans US-Imperium? Palmer gibt indes eine andere Begründung; während er spricht, wird sein Blick leicht melancholisch: Schön sei er, der Adler, so über der Landschaft schwebend. Aber ihn beeindrucke „das Agonale, das das Tier hat in seinem Überlebenskampf“. Als bedrohte Art? „Auch. Aber vor allem im stetigen Wettkampf um Nahrung.“ Es sei ja nicht so leicht, immer wieder den überlebensnotwendigen Fisch zu kriegen. Ein Wappentier nicht als Herrschafts-, sondern als Überlebenssymbol.

Es klingt wie der Shortcut seiner politischen Überzeugung. Es geht ums Überleben. Die Welt retten – mit Fürsorge und Kontrolle; die Gegensätze aushalten, um die notwendigen Schritte machen zu können.

Noch während des Gesprächs denke ich, Boris Palmer hat politisch nichts anderes getan, als konsequent die Lehren aus seiner Kindheit ins Feld der Öffentlichkeit zu übertragen. Etwas treu bleiben, und es zugleich so verändern, dass Neues daraus entstehen kann; ebenso rebellisch wie beharrlich an den dicken Brettern bohren – die sogar vor den Köpfen von Parteifreunden sitzen können. Er ist in vielem der treue Sohn geblieben – und mittlerweile selbst Vater geworden. In der Rolle, sagt er, habe er sich fest vorgenommen, dem eigenen Vater nicht zu folgen. Er lächelt und in diesem Lächeln liegt etwas Melancholisches; und, tatsächlich, Fürsorgliches.