Lass den Bus sausen, fahr Auto!

Das Auto ist ideal auf dem Land.Es ist gegenüber wenig ausgelasteten Bahnen und Bussen auch ökologisch sinnvoll

VON WEERT CANZLER

Bundes- und Landespolitiker in Deutschland arbeiteten lange Zeit an einem Ziel: ländliche Gebiete an die Großstädte und Ballungsräume anschließen. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Straßen und Schienentrassen sollten für eine gute Erreichbarkeit sorgen und zugleich den BewohnerInnen in der Provinz die Chance geben, ab und an auch mal Stadtluft zu schnuppern. Die „Angleichung der Lebensbedingungen“ war das politische Ziel und Verkehrsinfrastrukturausbau lautete das Zauberwort. In den 70er-Jahren wurde dafür der Bundesverkehrswegeplan geschaffen. Seit dem Beitritt der fünf neuen Bundesländer zur Bundesrepublik ist der Neu- und Ausbau von Verkehrswegen das Herzstück des „Aufbaus Ost“.

Diese Investitionen in Beton und Asphalt sind aber auch symbolische Politik. Der Neu- und Ausbau von Straßen, Brücken und Bahntrassen wird medienwirksam in Szene gesetzt. Kaum ein Bildmotiv wird so häufig in Lokalzeitungen und im Regionalfernsehen lanciert wie das des Verkehrsministers und der Bürgermeisterin mit der Schere in der Hand, um ein neues Teilstück einer Straße zu eröffnen. Und das soll nun vorbei sein? Damit würde ein politischer Glaubensgrundsatz zerbrechen, nach dem der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur ein Stück Regionalförderung ist. Und überdies notwendig, um das Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West zu überwinden. Insofern war es ein Menetekel, als im Frühjahr 2005 bekannt wurde, dass erstmalig eine Landesstraße in Brandenburg entwidmet werden soll. Die Landesstraße 293 zwischen Finow und Biesenthal nördlich von Berlin wird nicht weiter ausgebaut und asphaltiert, sondern für private Autos gesperrt und nur noch als Forst- und Radweg genutzt.

In allen neuen Bundesländern und in einigen Regionen des alten Westens ist der Problemdruck enorm: Ganze Landstriche entleeren sich, der Anteil der Alten und ganz Alten steigt, weil die Jungen verstärkt weggehen. Gewerbe und Unternehmen schließen, Neuansiedlungen bleiben aus. Was oft als demografischer Wandel bezeichnet wird, ist vielmehr ein sozialstruktureller Effekt. Die gut ausgebildeten und unternehmenslustigen Leute wandern ab, die wenig oder einseitig Qualifizierten verharren. Wer schulpflichtige Kinder hat, sucht die Nähe eines erreichbaren Schulstandortes. Die Zurückgebliebenen sind oft die weniger Mobilen. So schließt sich der Kreis. Rück- und Abbau von Verkehrsangeboten ist die Folge.

Dramatisch sieht es zukünftig beim öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) auf dem Land aus. Dort fahren vielerorts schon jetzt kaum mehr Züge. Seit langem besteht der ländliche öffentliche Verkehr zu 80 Prozent und mehr aus Schülertransporten. Solange es genügend Schüler gibt, lohnt sich das für die Anbieter. Für verbilligte Schülertickets gibt es Ausgleichszahlungen vom Bund. Schüler sind anspruchslose Kunden, die meistens gar keine Alternativen haben. Brechen nun die Schülerzahlen ein, fallen auch die letzten Bus- und Bahnverbindungen weg. In Brandenburg wird es ab dem Jahr 2008 außerhalb des Berliner Speckgürtels nur noch halb so viel Schüler geben wie 2001. Ein Drittel der Grundschulen und fast die Hälfte der Schulen ab Sekundarstufe I werden bis dahin geschlossen sein. Für etliche Schüler werden zudem die Entfernungen so lang, dass ein Buszubringer viel zu langsam wäre. Sie werden dann noch mehr als heute schon von ihren Eltern mit dem Auto zur Schule kutschiert. Schon werden Stimmen lauter, die Zwergschulen fordern – nach französischem Vorbild.

Ist es überhaupt ein Problem, wenn es kein flächendeckendes Angebote an öffentlichem Verkehr mehr gibt? Im Einzelfall kann das schwierig sein. Insgesamt wohl kaum, da wir längst eine Vollmotorisierung auf dem Land haben. Gerade einmal 4 Prozent aller Haushalte auf dem Land sind ohne eigenes Auto. Bis auf die wenigen Kinder und Jugendliche sowie die älteren Frauen ohne Führerschein haben fast alle LandbewohnerInnen ein Auto oder zumindest zeitweise Zugang dazu. Das Mobilitätsniveau hat eine historisch einmalige Höhe erreicht.

Was ist, wenn die ländliche Idylle zum Rückzugsgebiet für gestresste Städter wird? Die kommen in aller Regel mit dem eigenen oder einem geliehenen Auto. Für Verkehrswissenschaftler ist klar: Der Freizeitverkehr ist aufs engste mit dem Auto verbunden. Die Freizeitziele sind oft völlig diffus, die Zeiten nicht kalkulierbar, die Wünsche nach spontaner Ortsveränderung nicht zu befriedigen. Da lässt sich Verkehr nicht so bündeln, wie es der klassische Bus- und Bahnverkehr braucht.

Das Problem ist also faktisch gar keines. Es ist allein „ein Problem im Kopf“, eben weil in der Verkehrspolitik lange die Doktrin galt, dass auch der ländliche Raum mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sein muss. Taktfahrpläne und landesweite Bahnteilnetze sind das Ergebnis dieser Doktrin. Man war stolz auf die integrierten Fahrpläne, selbst wenn die Taktintervalle zwei Stunden betrugen. Und jetzt sollen große weiße Flecken entstehen. Das erzeugt bei Verkehrsplanern Unbehagen. Sie tun sich oft schwer, Abschied zu nehmen vom vertrauten Nahverkehrszug und vom subventionierten Standardbus.Weiße Flecken müssen nicht weiß bleiben. Denn es gibt durchaus Chancen für einen innovativen „Verkehr jenseits der Großraumgefäße“, wie ihn der Verkehrswissenschaftler G. Wolfgang Heinze schon in den 1980er-Jahren gefordert hat. In der Sprache der Verkehrsbürokraten: „flexible Bedienformen“. Ohne Fahrpläne und ohne Wartehäuschen. Ohne die rechtlichen Vorgaben, die das ÖPNV-Angebot einschränken und maßgeschneiderte Alternativen verhindern. Da werden kleinere Fahrzeuge, beispielsweise neunsitzige Kleinbusse auf der Basis des VW Caravelle oder auch ganz konventionelle Taxen, eingesetzt. Heute sind dafür die technischen Rahmenbedingungen besser denn je. Telefonisch oder per E-Mail kann man seinen Fahrtwunsch anmelden. Eine Logistiksoftware errechnet die günstigste Verbindung, meldet die Abholzeit zurück, während man nicht an einer ungemütlichen Haltestelle, sondern zu Hause warten kann. Der Tarif liegt etwas über einem normalen Busticket, aber deutlich unter dem Taxipreis. Anrufbusse werden im Hinterland des ostfriesischen Städtchens Leer schon seit fast zwei Jahrzehnten erfolgreich eingesetzt. In den abgelegenen Tälern der Schweiz sind Anrufsammeltaxen ein beliebter Zubringer zum vorbildlichen Schweizer Bahnsystem.

Mit Hoffnungen verbunden wird auch das Konzept des Bürgerbusses. Dabei handelt es sich um die zivilgesellschaftliche Ersatzlösung für den früher kommunalen ÖPNV. Ehrenamtlich fahren engagierte Bürger, oft rüstige Rentner mit Personenbeförderungserlaubnis, Kleinbusse auf bestimmten Routen oder in abgegrenzten Arealen. So können Personalkosten eingespart werden, die im öffentlichen Nahverkehr oft mehr als 70 Prozent der Gesamtkosten ausmachen. Auf diese Weise werden Busangebote selbst bei geringer Nachfrage wieder bezahlbar.

Anrufsammeltaxen und Bürgerbusse sind zwar viel preiswerter als ein konventioneller ÖPNV, aber kostendeckend sind sie in der Regel auch nicht. In Nordrhein-Westfalen gibt es für Bürgerbusvereine seit 1999 eine zusätzliche Landesförderung für die Anschaffung und Instandhaltung von Kleinbussen.

Großer Reformbedarf besteht generell bei der Finanzierung des öffentlichen Verkehrs. Für Städte und Ballungsgebiete lautet das zentrale Argument, dass der öffentliche Nahverkehr allen nutzt, auch den Autofahrern. Ohne einen funktionierenden ÖPNV wären die Stau- und Parkplatzprobleme dort noch viel größer. Dieses Argument trifft in ländlichen Räumen nicht zu. Angesichts knapper Kassen wird daher die Forderung lauter, den defizitären ÖPNV nicht mehr nach dem Gießkannenprinzip zu fördern. Die neuen Bundesländer sind Vorreiter in der Umorientierung der Finanzierung. Seit Januar 2005 wird in Brandenburg die Zuweisung von Landesmitteln für den öffentlichen Personennahverkehr erstmalig gestaffelt. Die volle Förderung gibt’s nur, wenn mehr Fahrgäste gewonnen werden. Was banal klingt, ist für die ÖPNV-Förderung revolutionär. Es geht allein im bevölkerungsschwachen Brandenburg um 50 Millionen Euro jährlich.

Die Krise des öffentlichen Verkehrs macht eines klar: Das Auto ist ideal für das Land. Es kann seine Vorteile voll ausspielen, gegenüber wenig ausgelasteten Bussen und Bahnen sogar seinen Öko-Vorteil. Moderne Autos mit avancierter Filtertechnik sind nicht nur sauberer und leiser als jeder Schwerlastbus, sondern auch im Verbrauch überlegen. Platzprobleme gibt es sowieso nicht. Das Auto ist die Grundversorgung für Mobilität auf dem Land. Das Personenbeförderungsgesetz ist überholt, ebenso die daran geknüpfte öffentliche Finanzierung. Im Einzelfall kann es daher auch sozialpolitisch sinnvoller sein, Taxen und sogar private Autos im Sinne einer „Subjektförderung“ zu subventionieren als leere Standardbusse durch die Gegend zu schaukeln.