Warnungen vor „nuklearem Wendepunkt“

In den USA regt sich Kritik am desinteressierten Umgang der Bush-Regierung mit dem Atomwaffensperrvertrag

WASHINGTON taz ■ UN-Generalsekretär Kofi Annan hat am Montag die Staatengemeinschaft aufgefordert, ihre im Atomwaffensperrvertrag eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten. Denn das Abkommen ist in Gefahr, warnt ein UN-Report zu Beginn einer Vertragskonferenz in New York: „Wir nähern uns einem Zeitpunkt, an dem seine Erosion unumkehrbar werden und in einen Wettlauf zur Weiterverbreitung münden könnte.“

Nach UN-Einschätzung ist die nukleare Bedrohung gewachsen. Ursachen sind neue Formen des Terrorismus, ein atomarer Schwarzmarkt und Staaten, die den Vertrag verletzen oder wie im Falle von Nordkorea aussteigen. Doch ein Hauptgrund liegt nach Ansicht vieler Fachleute – und des Expräsidenten Jimmy Carter – im Verhalten der US-Regierung. Denn obwohl Präsident Bush Nuklearwaffen und waffenfähiges Material in den Händen von Terroristen zur größten Sicherheitsgefahr erklärt hat, fehlt es seiner Regierung am politischen Willen, dieser Erkenntnis Taten folgen zu lassen. Gefährlicher noch, sagen Fachleute, durch ihre Anstrengungen neue Waffen wie die „Mini Nukes“ zu entwickeln, mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen selbst gegen Nicht-Atomstaaten zu drohen und aus dem ABM-Vertrag auszusteigen, habe sie ihre Glaubwürdigkeit verspielt.

Das Desinteresse veranlasste ehemalige US-Politiker, Kongressabgeordnete und Sicherheitsexperten, den öffentlichen Druck auf die Bush-Regierung zu erhöhen. Sollte die Konferenz scheitern, droht nach Ansicht von Joseph Cirincione, Rüstungsfachmann vom „Carnegie Endowment for Peace“ ein „nuklearer Wendepunkt“.

Er fordert, die Nuklearkontrollen zu verschärfen, hierzu den Handlungsspielraum der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) für Inspektionen auszuweiten, die diplomatischen Anstrengungen gegenüber dem Iran zu verstärken, die Abrüstung der Atommächte zu beschleunigen und klarzustellen, dass sich kein Land aus dem Vertrag ohne Konsequenzen zurückziehen kann.

Hier liegt bislang eine Schwachstelle. Staaten, die Atomstrom erzeugen wollen, dürfen sich die hierzu notwendige Technik beschaffen, die es ihnen schließlich ermöglicht, Atomwaffen zu produzieren. Wenn sie diesen Punkt erreicht haben, können sie aus dem Vertrag aussteigen, ohne UN-Sanktionen fürchten zu müssen.

Die USA werfen dem Iran vor, unter dem Vorwand friedlicher Nutzung ein militärisches Atomprogramm zu betreiben, und sprechen dem Iran daher das Recht auf zivile Atomkraftnutzung ab. Die Europäer und die UN widersprechen, verlangen aber im Gegenzug von Teheran uneingeschränkte Kontrollen.

Als Kompromiss hat IAEA-Chef Mohammed al-Baradai ein weltweites fünfjähriges Moratorium vorgeschlagen, auf jede Form der Uran-Anreicherung zu verzichten. Doch zwei Staaten lehnen den Vorschlag ab: die USA und Iran. MICHAEL STRECK