Das soziale Umfeld

NEUE KAPITALE KRITIK (2): Der Staat muss wieder den Mut haben, seinen Vorrang vor der Ökonomie zu behaupten. Beispiele für erfolgreiche Interventionen gibt es genug

Ohne staatliche Dauerintervention gäbe es heute die erfolgreiche Firma Airbus nicht

Kapitalismuskritik – kaum erlaubt sich jemand, die Wirklichkeit einmal anders zu interpretieren als die stets übellaunigen fünf Wirtschaftsweisen, schon stellt garantiert irgendein ausgeschlafener Journalist die originelle Frage: „Und was heißt das konkret?“

Wie wär’s damit: Das wissen wir noch nicht so ganz genau. Wir müssen nachdenken und diskutieren, es geht ja um eine ziemlich große Volkswirtschaft. Das bürgerliche Lager demonstriert zurzeit sehr schön, dass wir uns zu lange nicht mehr über die Frage verständigt haben, wem eigentlich der Vorrang gebührt – der Ökonomie oder der Politik. Konservative und Liberale entdecken plötzlich, dass sie die Welt doch ganz unterschiedlich sehen.

In einem Kommentar in der Welt schreibt Christoph B. Schiltz: „Nicht der Staat muss in einer sozialen Marktwirtschaft gestalten, sondern der Unternehmer muss das tun … Der Markt ist stärker als der Staat.“ Dem hält am selben Tag in der FAZ Heike Göbel entgegen: „Die Wirtschaft braucht den Staat so wie der Staat die Wirtschaft. Ohne staatliche Eigentumsgarantien und eine verlässliche Rechtsprechung kann der Markt nicht funktionieren. Kein ehrlicher Unternehmer stellt den Primat des Staates in Frage.“

Diese Frage neu zu stellen und künftig vielleicht ein bischen anders zu beantworten, als der politische Mainstream in Deutschland das in den vergangenen Jahren getan hat, fällt dem bürgerlichen Lager so wenig leicht wie dem linken. Sicher ist wahrscheinlich nur eins: „Weiter so“ geht nicht mehr.

Aber okay: Was könnten Linke „konkret“ damit meinen, wenn sie den angemaßten Führungsanspruch der Ökonomie nicht länger akzeptieren wollen? Woran könnte sich eine moderne Wirtschaftspolitik heute orientieren? Etwa an der relativ neuen Schule einer politischen Theorie, die sich „Neo-Institutionalismus“ nennt.

Danach ist es zum Beispiel ein Unterschied, ob ein anonymer Investmentfonds aus den Vereinigten Staaten weitreichende Unternehmensentscheidungen in Europa trifft – oder ob der entscheidende Mann in, sagen wir mal Dänemark, selbst ein dänischer Unternehmer ist, der alle Vierteljahr bei Königin Margarethe auf Christiansborg zur festlichen Abendgesellschaft eingeladen ist. Da wird er nicht peinliche Tischkonversation machen wollen nach dem Motto: „Wieder mal zehntausend Leute freigestellt, aber die Börsenperformance war wirklich fantastisch.“ Wenn Majestät nach seiner Unternehmung fragen, muss der Däne eine schönere Antwort wissen.

Akteure in jedem Bereich der Gesellschaft bemühen sich, so die Theorie, um ein ihrem sozialen und kulturellen Umfeld angemessenes Verhalten. Soziale Normen, Symbole, die Erwartungen anderer oder kollektive Moralvorstellungen sind nicht egal – auch wenn sie in der ökonomischen Theorie ständig wegdefiniert werden, als ließe sich ein Mensch ganz ohne die Gesellschaft anderer denken.

Das soziale Umfeld, auf das die Wirtschaft ausgerichtet ist, sind einerseits konkurrierende Unternehmen, andererseits aber die ganze Gesellschaft, in der selbst die leitenden Herren der Weltkonzerne nach Feierabend zu leben gezwungen sind. Was diese soziale Umgebung von den ökonomischen Eliten erwartet, ist auch in der globalisierten Wirtschaftswelt nicht ohne Belang.

Was man von ihnen erwarten darf, müssen einem aber nicht erst die Wirtschaftsleute selbst und ihre Agenten in Wissenschaft, Verbänden und Medien erzählen, sondern das dürfen Arbeitnehmer und Kirchenleute, Eltern, Mieter, Konsumenten, Alte, Kranke, Handwerker und Bankkunden schon noch für sich entscheiden. Schließlich ist die Wirtschaft – welcher Kapitalist wollte das bestreiten? – für alle da. Einer dieser gesellschaftlichen Bereiche, der seine Ansprüche an das angemessene Verhalten der ökonomischen Akteure formulieren darf und muss, ist der Staat.

Was der erste sozialdemokratische Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller sich als „Globalsteuerung“ der Wirtschaft vorstellte, zum Beispiel durch aktive Zins- und Steuerpolitik, funktioniert unter den Bedingungen der Globalisierung immer weniger. Was hingegen funktionieren kann, ist das, was die freie Wirtschaft am aggressivsten fürchtet und bekämpft: der direkte Eingriff, die Staatsintervention. Sie braucht ein klares Ziel, schlüssige Planung, präzise kalkulierten Mitteleinsatz und konsequente Durchführung. Für liberale Ordnungspolitiker ist das der totale Sündenfall. In der Realität aber wurde mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen die einzelbetriebliche Intervention immer wieder geübt, von Bundes- wie von Landesregierungen.

Soziale Normen sind nicht egal, auch wenn die ökonomische Theorie sie ständig wegdefiniert

Ohne staatliche Dauerintervention, internationale Absprachen und feiste Subventionen gäbe es heute die erfolgreiche Firma Airbus in Deutschland (und Frankreich und Großbritannien und Spanien) nicht. Inzwischen ist sie Weltmarktführer im zivilen Flugzeugbau. Ohne staatliches Dazutun wäre das Ruhrgebiet heute deindustrialisiert. Aber neue Universitäten haben das Zechensterben durch neue Qualifikation für neue Berufe in neuen Betrieben erträglich gemacht. Das war das Verdienst der Ministerpräsidenten Heinz Kühn und Johannes Rau. Wie kaum ein anderer hat der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß mit Landesgeld und rustikalem Druck auf Helmut Kohls Bundesregierung in Bonn für Industrieansiedlung und gewaltige Infrastrukturprojekte wie den neuen Münchner Flughafen im Erdinger Moos gekämpft. Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder kaufte vor der Landtagswahl 1998 (deren triumphaler Ausgang ihm die SPD-Kanzlerkandidatur im gleichen Jahr sicherte) mal eben ein heimisches Stahlwerk, das der Mutterkonzern stilllegen wollte, rettete damit die Arbeitsplätze und verkaufte wenig später das Werk mit Gewinn für die Landeskasse an einen anderen Konzern, der es dann weiterführte.

Das sind Interventionen eines selbstbewussten Staates, der sich seine Handlungsfreiheit nicht von Kapitalinteressen beschränken lässt. Zwar folgt ein großer Teil Europas im Augenblick einer anderen Ideologie, aber dass die Spielräume für erfolgreiche nationale Industriepolitik nach wie vor riesig sind, zeigt zum Beispiel Frankreich, dessen Regierung sich aktiv für die Übernahme des deutsch-französischen Pharmakonzerns Aventis (früher Hoechst) durch den französischen Konzern Sanofi-Synthélabo einsetzt und gleichzeitig die Übernahme des angeschlagenen französischen Technologie-Unternehmens Alstom durch den deutschen Siemens-Konzern abwehrt – während die deutsche Regierung sich, ordnungspolitisch korrekt, neutral verhält.

Eine neue Philosophie, neue Kriterien und Instrumente für eine direkte staatliche Einmischung ins Wirtschaftsgetriebe zu entwickeln, das wäre eine edle Aufgabe für die Politik einer neuen Linken, die aktiv steuern will, was im Ozean der freien Marktwirtschaft eben sozial zu steuern ist. HANS-PETER BARTELS