: Umgedrehte Machtverhältnisse
THEATER Bis zum 11. März lädt die Schaubühne zu F.I.N.D., dem Festival Internationaler Neuer Dramatik. Die Produktionen machen Klassiker wie Strindberg und Shakespeare für die Gegenwart fruchtbar
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Als der Regisseur Thomas Ostermeier im Dezember 2011 am Moskauer Theater der Nationen „Fräulein Julie“ probte, hatte sein Hauptdarsteller Jewgeni Mironow ein Problem. Kann er eine Einladung zu Putins jährlicher Fernsehshow ausschlagen, bei der sich der Premier vier Stunden lang demokratisch zeigt und von Bürgern im Studio befragen lässt? Er wäre lieber nicht hingegangen, aber das konnte er nicht. Denn Jewgenj Mironow ist auch Leiter des Theaters der Nationen, das jahrelang kein eigenes Haus mehr hatte. Das Geld für die Sanierung des jetzigen Theaters kam schließlich von Putin und anderen Oligarchen, und der Premier ließ sich dort bei der Gala der Wiederöffnung im September 2011 als Förderer der Künste feiern. Am Klavier spielte er ein Lied, das den Widerstand der Sowjets gegen Nazideutschland hochhält.
Die Rache des Chauffeurs
Diese Episode, die Ostermeier im Freitag erzählt hat, ist zwar kein äußerlich sichtbarer Teil der Inszenierung von „Fräulein Julie“, die am 2. und 3. März an der Berliner Schaubühne zu Gast sein wird. Aber sie hat ebenso sehr die Zeit der Proben beeinflusst wie Anti-Putin-Demonstrationen nach den Parlamentswahlen Anfang Dezember. Wie man sich verhält im Umgang mit der Macht, das beschäftigte die Künstler am Haus die ganzen Wochen über.
Mit dem Gastspiel aus Moskau eröffnet die Schaubühne in diesem Jahr ihr Festival Internationaler Neuer Dramatik, F.I.N.D.. Dabei geht es diesmal auch um Klassikerbearbeitungen. „Fräulein Julie“ von Strindberg wurde von dem russischen Dramaturgen Michael Durnenkow in die Gegenwart übersetzt. Julie ist jetzt die gelangweilte und lebenshungrige Tochter eines reichen Geschäftsmanns und Exgenerals, die in der Küche versucht, den Chauffeur zu verführen. Die Machtverhältnisse scheinen eindeutig, aber der Chauffeur weiß sie umzudrehen, das ist schon bei Strindberg so. Die harten Klassenunterschiede und Aufstiegskämpfe der russischen Gesellschaft heute liefern dafür eine sehr passende Folie. Dass Mironow, der den Chauffeur spielt, selbst mit Chauffeur und schwarzem Mercedes zum Theater gefahren wird, ist aus deutscher Perspektive überraschend – aus russischer Sicht vermutlich nicht.
„Machen Sie keine Werbung für dieses Gastspiel“, meinte Thomas Ostermeier bei der Vorstellung des Programms, „es ist eh schon ausverkauft.“ Das liegt daran, dass alle drei Schauspieler russische Stars sind und deshalb attraktiv für die russische Community Berlins. Über die Jahre hat sich das Festival, das zum 11. Mal stattfindet, auch zu einem Anziehungspunkt unterschiedlichster Zuschauergruppen entwickelt, die gerade ihrer Künstler wegen kommen. Das gilt auch für den polnischen Regisseur Krzysztof Warlikowski und das Neue Theater Warschau, die mit „Afrikanische Erzählungen nach Shakespeare“ das zweite große Gastspiel beisteuern. Figuren von Shakespeare, aus „King Lear“ und „Othello“, bringt Warlikowski mit Erzählungen von J. M. Coetzee zusammen: Das Anderssein und das Ausgeschlossenwerden bilden dabei die thematischen Verbindungslinien.
Zu den Gästen der Schaubühne, die viel vom Ausgeschlossensein wissen, zählt das Freedom Theater aus Dschenin in Palästina. Diesmal kommen die Theaterschüler nicht mit einer Aufführung, sondern drei ihrer Mitglieder sind eingeladen, an der Schaubühne ein Praktikum in der Theatertechnik zu machen. Die Theaterschule kann Unterstützung gebrauchen, denn ihre Existenz ist seit der Ermordung ihres Leiters Juliano Mer Khamis bedroht. Das ist Teil des Programms F.I.N.D. plus, einem Austausch von Regiestudenten.
Aus Griechenland kommt die Gruppe „Blitz“ zum Festival, die mit Schauspielern der Schaubühne die Performance „Galaxy“ geprobt haben: eine Revue, in der Stimmen aus dem Jenseits, von Dichtern, Politikern und Schwerverbrechern sprechen, von alten Utopien und Weltrettungsideen. Ostermeier lernte die Gruppen während eines Gastspiels der Schaubühne in Athen kennen; aber er traf sie nicht zuerst im Theater, sondern sah ihre Performance bei einer Demonstration, auf der Straße, wo sich ihre Stimmen aus dem Jenseits, ihre Erzählung von den verlorenen Hoffnungen der Geschichte unter die Stimmen der Gegenwart mischte.
So lässt die Programmvorschau, die der Intendant bei einem Pressetermin gibt, viel von der Sehnsucht der Theatermacher ahnen, sich an der Wirklichkeit zu reiben; aber auch von dem Druck, den die politischen und sozialen Realitäten auf die Kunst ausüben. Das vergisst man manchmal hier, aber die diesjährige Ausgabe von F.I.N.D. ruft es in Erinnerung.
■ Bis 11. März, Schaubühne am Lehniner Platz, Programm unter www.schaubuehne.de
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