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Der Realitätsgrund genuin amerikanischen Schreibens

FICTOCRITICISM Der US-amerikanische Kunsttheoretiker und -kritiker Mark von Schlegell stellte in Berlin sein Buch „Realometer“ vor

„EXPRESSNACHRICHT! ATLANTIK IN DREI TAGEN ÜBERQUERT! AUSSERORDENTLICHER TRIUMPH VON MR. MONCK MASONS FLUG-APPARAT!“ Am 13. April 1835 fand die Ausgabe der New York Sun so reißenden Absatz, dass die Polizei das Gebäude rund um die Zeitung absperren musste. Die Titelgeschichte über die erste Überquerung des Atlantiks in einem Ballon erwies sich allerdings bald als Zeitungsente – ihr Autor war der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe. An der Schnittstelle zwischen Fiktion und Wirklichkeit setzt auch Mark von Schlegell in seinem neuen Buch „Realometer“ an. „Wenn man selbst Fiction schreibt, merkt man schnell, dass viele nonfiktionale Werke in Wirklichkeit auch Fiction sind“, sagt er.

Um sein Buch „Realometer“ vorzustellen, ist Mark von Schlegell nach Berlin gekommen, auf die Dachterrasse des Hauses der Kulturen der Welt. Er steht in der warmen Abendsonne, während sein DJ und Co-Übersetzer an einem Pult hinter ihm Astronautenmusik auflegt und vor ihm auf Stühlen, Boden und Geländer allmählich das Publikum Platz nimmt – knapp fünfzig Leute, gut zur Hälfte junge Berliner Künstler.

Mark von Schlegell ist vor allem für seine kunsttheoretischen Texte bekannt – heute Abend aber geht es um Literatur. In „Realometer. Amerikanische Romantik“ widerspricht Mark von Schlegell der gängigen Darstellung der amerikanischen Romantiker als einer Horde versponnener Fantasten. Von Schlegell ist im Gegenteil davon überzeugt, dass die Autoren Edgar Allan Poe, Henry David Thoreau, Herman Melville und Emily Dickinson mehr von der Wirklichkeit verstanden als ihre Zeitgenossen der Aufklärung – und dabei schon im 19. Jahrhundert die Postmoderne vorwegnahmen.

Volkshochschulkurs Scifi

„Realometer“ umfasst gerade mal achtzig Seiten, die in einer extrem dichten Sprache abgefasst sind. Von Schlegell vermischt darin Literaturkritik mit literarischem Schreiben zu einem Stil, den er „fictocriticism“ nennt. In seinen eigenen Worten: „Der Realometer liebt den Gedanken, dass Kunst und Philosophie Seite an Seite arbeiten und ohne das Bedürfnis, sich gegenseitig zu verschlingen.“

Der heute 42-jährige von Schlegell begann als Autor von Science-Fiction, studierte dann an der New York University bei Jacques Derrida und promovierte in den späten 90ern über die amerikanische Romantik. Jahrelang schlug er sich als Bibliothekar durch, bis er im Kunstbetrieb von Los Angeles ein Zuhause fand. Heute schreibt von Schlegell über Kunst und Kunsttheorie für Museumskataloge (Whitney Museum, Palais Tokyo) und Magazine, darunter Parkett, Flash Art und Spex. Seit 2005 lebt der Amerikaner mit einer deutschen Filmemacherin in Köln. Im Herbst wird er an der Kölner Volkshochschule Kurse über Science-Fiction-Literatur geben. Seine beiden Science-Fiction-Romane „Venusia“ und „Mercury Station“ sind bei Semiotext(e) veröffentlicht.

In seinem neu erschienen Buch „Realometer“ stellt von Schlegell den Objektivismus der Aufklärung als Propaganda infrage. Während Edgar Allan Poe mit „The Great Balloon Hoax“ ganz offensichtlich die Wirklichkeit manipulierte, konstruierte die Aufklärung die Illusion einer bestehenden, abgeschlossenen Wirklichkeit, eines Gegenstandes, der von außen neutral analysiert und bewertet werden konnte. Laut von Schlegell diente diese Darstellung – das „unsichtbare Buch“ der Aufklärung – der Verhüllung der Wirklichkeit und wurde damit Teil einer ideologischen Operation.

Solche Ideologien, Täuschungen und Unwahrheiten aufzudecken, ist Aufgabe des „Realometers“. Die Idee für einen solchen „Messer von Nicht-Wirklichkeit“ hat von Schlegell aus Henry David Thoreaus Werk „Walden“ (1854) entnommen. Der Realometer vereint die Idee der Dekonstruktion mit der Sensibilität des Romanschriftstellers für Erfindung und Wirklichkeit. Darüber hinaus erweist sich der Realometer als besonders erhellend, wenn es um die Geschichte der USA geht – laut von Schlegell ist „Amerika“ nicht nur eine Ortsbezeichnung, sondern das Vehikel einer nationalistischen Idee und eine der mächtigsten Metaphern der Gegenwart.

„Er lasst sich nicht lesen“ – mit diesem Zitat auf Deutsch beschließt Edgar Allan Poe seine Kurzgeschichte „The Man of the Crowd“. Auch Mark von Schlegell ist sich am Ende seines Vortrags in Berlin nicht sicher, ob seine Ideen wirklich klar geworden sind – „but if you want to be further mystified, read my book“, sagt er. JETTE GINDNER

■ Mark von Schlegell: „Realometer“. Amerikanische Romantik. Merve Vlg., Berlin 2009, 79 S., 7 €

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