Trainieren für eine andere Welt

Eine Grundausbildung im effektiven Protestieren absolvierten rund hundert GlobalisierungskritikerInnen und anderweitig Engagierte auf der Attac-“Aktions-Akademie“ in Minden. Dabei ging es ausschließlich um Aktionsmethoden – weil sich die Welt allein mit Infoständen nur schwer verändern lässt

FDP-Chef Guido Westerwelle hat es ebenfalls erwischt. Er grinst in Minden jetzt für die CDU – nachgeholfen haben die „Adbuster“

aus Minden Armin Simon

Zu kurz! Die Schnürchen sind einfach zu kurz! Reichen nicht von rechts nach links, nicht um den halben Turm herum, nicht von einem Seil zum anderen. An der Fassade der zum Kulturzentrum umgebauten ehemaligen Johannis-Kirche in Minden, zwei Meter unterhalb des Turmstübchens und gut vier Stockwerke über dem Boden herrscht einen Moment lang Ratlosigkeit. Wie eine Wurst zusammengeschnürt haben die HelferInnen das Transparent aus dem Fenster gereicht, es den Kletterern übergeben, die nun, den Oberkörper nach hinten gelehnt, die Füße breitbeinig gegen den Sandstein gestemmt, im Hüftgurt hängend, dem Nieselregen trotzen. Und vielleicht lieber nicht nach unten in die Tiefe kucken. Schnürchen ans Seil, Karabiner daran, Transparent einhängen – so lautete der Plan. Jetzt heißt es erstmal: „Stopp!“ Kletterer „links“ muss wieder locker lassen, „rechts“ eine Verlängerung basteln. „Mitte“ hilft bei der Verständigung: Der Wind ist laut.

Immerhin stimmen die Ecken. „OR“ hat jemand an einer Ecke auf den Stoff gekritzelt, mit rotem Filzstift, „OR“ für „oben rechts“. Und zwar, Tobias hat es allen eingeschärft, „aus Sicht der Presse oben rechts“. Eine kleine, aber wichtige Definition. Denn nicht die Hauswand, sondern die Presse unten auf der Straße, soll den Spruch lesen und fotografieren können. Alles andere hieße: Aktion gescheitert.

Die kleine Panne mit den Befestigungen ist an diesem Freitagmorgen nicht von Belang. Auch dass das Banner nicht auf Anhieb gerade hängt, weder ordentliche Schlaufen noch Verstärkungen aufweist, bisweilen Falten schlägt, spielt heute keine Rolle. Erstens ist der Mindener Kirchhof sowieso leer gefegt. Und zweitens ist das alles nur eine Übung, organisiert von Attac. „Hongkong platzen lassen“, prangt es schließlich über dem Platz. Das meint den nächsten Gipfel der Welthandelsorganisation. Die Lokalpresse wählt ein Foto, auf dem das Transparent noch eingefaltet ist.

Immerhin jedoch: Es gab ein Foto, samt Artikel. Und als am Tag darauf die Aktion wiederholt wird, ist das Banner ein Blickfang für viele.

Infotische ziehen selten soviel Aufmerksamkeit, und mit Vorträgen allein lässt sich kein Staat mehr machen. Attac spürt das, täglich. EU-Dienstleistungsrichtlinie, Privatisierung öffentlicher Aufgaben, Freihandel und Steuerschlupflöcher sind Themen, die erst noch auf einen allgemeinverständlichen Punkt gebracht werden müssen, bevor sich nennenswerte Teile der Bevölkerung für sie interessieren. „Eine andere Welt ist möglich“, wirbt Attac. Stephanie Handtmann ist im Bundesbüro für die Ortsgruppen und für Aktionsunterstützung zuständig. „Um wirklich Druck zu erzeugen, muss man auf die Straße gehen“, sagt sie.

Die viertägige „Aktions-Akademie“ im Anne-Frank-Haus in Minden, die Handtmann jetzt zum zweiten Mal organisiert hat, soll da ein wenig nachhelfen. Das Seminarprogramm ist eine Art Grundausbildung für Protestler. Klettern, Pinseln, Sprayen, Straßentheater und ziviler Ungehorsam – gewaltfreie Aktion und Direct Action kann man hier lernen; es wird vermittelt, wie man Transparente malt, Slogans findet und Kampagnen entwirft. Wie man für Aufsehen in der Fußgängerzone und für Spaß auf Demonstrationen sorgt, wie man mit eventuellen juristischen Folgen umgeht und wie man – auch das ist wichtig – seine Emails verschlüsselt: Damit die Polizei nicht heute schon weiß, was morgen los ist. Man wolle „die Aktionsfähigkeit von Attac stärken“, sagt Handtmann, „wahrnehmbar werden“. Inhaltliche Fragen werden ein anderes Mal diskutiert.

Das Konzept zieht: An die hundert TeilnehmerInnen zählte die Akademie in diesem Jahr, Altersspanne 20 bis 60. Da ist die Studentin aus Lüneburg, die schon mit aufblasbarem Greenpeace-Wal am Fernsehturm in Berlin hing und hier ihre Kletterkenntnis auffrischt. Da ist der PDS-Landesvorsitzende aus Bremen, eine Generation darüber, der es „nie zu spät“ findet, „neue Aktionsideen zu erlernen“. Als Teil einer Straßenperformance, einer „Menschenmaschine“ stapft er durch den Garten, symbolisch mit dem Fuß nach einer unterprivilegierte Gestalt tretend, die „Götterfunken“-Europa-Hymne von Beethoven auf den Lippen. Da ist der Mitarbeiter der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden, der gemeinsam mit dem Anti-Atom-Aktiven aus dem Wendland über Sitzblockaden und zivilen Ungehorsam referiert. Und die Frau aus Karlsruhe, die mit dem Lehramtsstudenten aus Halle, genannt „Gipfel-Hopper“, durchspricht, wie man mit spielerischen Slogans, Sitzen-Stehen-Liegen-Springen und einem „Chant“ genannten Sprechgesang eine Demo aufpeppt.

Guido Westerwelle hat es ebenfalls erwischt. Er grinst in Minden jetzt für die CDU. Und die FDP tritt an, damit „das Erststudium gebührenfrei bleibt“. Alles nicht ganz freiwillig, zugegebenermaßen: „Adbuster“ haben etwas nachgeholfen. Auch Rainer hat den Adbusting-Kurs besucht, hat gelernt, wie man Schriftgrößen berechnet, Schablonen malt, passende Drüberkleber bastelt. Wie man mit Kleister, Papier und Farbe bewaffnet die heile Werbewelt verfremden, den Agenturen-Slogan kontrastieren, die vorgedruckte Botschaft durch eine eigene ersetzen kann.

Hans ist Ende 50 und Attac-Mitglied seit Jahren, in der Ortsgruppe einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt. Jetzt ist es kurz nach Mitternacht, in einer dunklen Ecke irgendwo in Minden, und wenn man genau kuckt, kann man noch einen feuchten Fleck auf der Plakatwand gegenüber erkennen, dort, wo sie „ausgebessert“ wurde. „Eins an alle“ hat sich Posten Nummer eins gerade mit gesenkter Stimme per Walkie-Talkie an seine Schmiere stehenden KollegInnen gewandt: „Ende. Alle zurück.“ Der Wind pfeift eisig um die Ecken. Rainer rafft seine Jacke etwas enger zusammen. Von Adbusting und all den Sachen hier hätten seine MitstreiterInnen zu Hause bisher nichts gewusst, erzählt er, „das war nicht in unsere Köpfen drin“. Er will es ändern, endlich mehr als Infotische machen. „Ich hab’ so eine Wut im Bauch“, begründet er. Aktionen machen „hilft, sie rauszulassen“.

Die Trommel-Demo-Live-Performance zum Abschluss der Akademie steigt am Sonntagmorgen vor dem Bahnhof. Sie richtet sich gegen Lidl, weil dessen Produkte weiß Gott woher kommen und weil Verdi sagt, dass Lidl seine Angestellten ausbeutet. Beziehungsweise gegen die Bahn AG, weil die bei Lidl demnächst billig Fahrkarten verkaufen will. „Kein Verkauf von Fahrkarten bei Discountern!“, fordert das Flugblatt, und: „Soziale Rechte für alle – weltweit!“ „Wirklich gute Aktionen kann nur machen, wer inhaltlich fit ist“, schreibt eine Studentin auf die Feedback-Tafel. Es ist als Mahnung gemeint.