In der Notaufnahme: Amputierte Finger
Ich liebe die Notaufnahme im Urban-Krankenhaus. Wenn man dort ist, geht es einem gleich besser. Nicht wirklich natürlich, aber im Vergleich zu den anderen, die auch hier liegen. So schlecht, dass ich ununterbrochen ein schluchzendes Heulen in höherer und einen durchaus zum Abtöten von Nerven geeigneten Ton von mir geben würde, geht es mir jedenfalls nicht. Still liege ich auf der Pritsche und warte auf den Arzt. Das tun alle hier.
Neben mir sitzt ein Mann auf dem Bett. Neben ihm ein Sanitäter, der ihn eingeliefert hat. Der Sanitäter sagt: „Nu leng Se sich mal hinne und sitzen Se nich wien Schluck Wasser in der Kurve. Wer weiß, wann Se wieder son bequemes Bett kriegen.“ Der Arzt kommt. Nicht zu mir, sondern zum Schluck Wasser in der Kurve: „Haben Sie getrunken?“ „Ob ich getrunken habe? Na sicha hab ich getrunken. Seit zwei Wochen schon. Ist doch scheißkalt draußen.“ Der Arzt nickt. Kälte ist ein guter Grund zu trinken.
Im Zimmer nebenan schreit ein Mann: „Das Arschloch hat mich angespuckt. Der hat Aids. Sie müssen mir sofort Blut abnehmen. Und dem Arschloch auch.“ „Wir können dem anderen kein Blut abnehmen“, sagt eine Arztstimme. „Wieso nicht? Hat doch Aids!“ Die Arztstimme wieder: „Wir können nicht einfach jemandem Blut abnehmen, wir leben in einem Rechtsstaat.“ „Scheißrechtsstaat“, sagt die aufgebrachte Stimme. „Dem muss Blut abgenommen werden. Hat mich angespuckt.“ Der Arzt sagt nichts mehr. Die aufgebrachte Stimme aber ramentert weiter. Nach einer Viertelstunde verliert der Arzt die Contenance. Er sagt: „Jetzt halten Sie endlich die Klappe. Ich musste gerade jemanden einen Finger amputieren. Der ist viel schlimmer dran als Sie.“ Besser als das Urban war da nur die Notaufnahme in Harlem. Da wurden Leute mit Schusswunden eingeliefert. Ein amputierter Finger war da eine Lappalie.
KLAUS BITTERMANN
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