Ist die Atomkraft am Ende?

AUS Fukushima war ein Schlag für die Kernkraft. Deutschland hat den Ausstieg beschlossen, in anderen Ländern wächst die Skepsis

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Ja

Mycle Schneider, 53, ist Autor des „World Nuclear Industry Status Report“

Es war wie ein Trompetenstoß: Die USA verkündeten am 9. Februar, sie würden zwei neue Atomkraftwerke bauen. Da war sie wieder, die Geschichte von der weltweiten Renaissance der Atomkraft. Fukushima nur ein Zwischenfall? So stellt es die internationale Atomgemeinde dar, so hat es Hans Blix, der ehemalige Chef der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) gesagt: Der Unfall sei „nur ein Schlagloch auf dem Weg der Atomkraftentwicklung“.

Abwärts, nur schneller

Die Fakten sprechen dagegen. So hat etwa der Chef der US-Atomaufsichtsbehörde gegen die Genehmigung für die neuen AKWs gestimmt. Seit 1973 wurde in den USA kein Atomkraftwerk mehr gebaut. Die Zahlen, die wir im „World Nuclear Industry Status Report“ seit Jahren sammeln, zeigen keine Spur von Renaissance: Die Tendenz bleibt nach Fukushima unverändert – abwärts, nur schneller.

Anfang März liefen nur noch zwei der 54 japanischen Reaktoren. Im Moment sieht es aus, als würde der japanische Kurs das deutsche Ausstiegsszenario bis 2022 als zögerlichen Gänsemarsch erscheinen lassen. In Italien haben sich in einem Referendum 94 Prozent der Menschen gegen den Wiedereinstieg ausgesprochen. In Frankreich ist der Atomkonsens zerbrochen. Während Nochpräsident Nicolas Sarkozy seine totale Unterstützung der Atombranche bekräftigt, befürwortet die Bevölkerung zu drei Vierteln den Ausstieg. Und während der Sozialist François Hollande den Anteil des Atomstroms von über 75 auf 50 Prozent bis 2025 senken will, fordert seine Parteichefin den Ausstieg. Die Präsidentschaftswahl am 6. Mai wird zur Atomwahl.

In der Zwischenzeit geht es den französischen Atomfirmen sehr schlecht. Die Aktien der Stromgiganten EDF, des weltgrößten Atombetreibers, und von Areva, dem weltweit größten Atomkonzern, haben sei 2007 fast 80 Prozent ihres Werts verloren, kaum besser als der Absturz des Tepco-Konzerns. Nur China baut noch massiv AKWs. 26 der 61 atomaren Baustellen in der Welt befinden sich in China. Die Regierungsstellen waren höchst schockiert von dem Desaster in Japan. 2011 gingen nur drei neue Atomkraftwerke in Betrieb, alle neuen Projekte wurden erst einmal storniert. Es gibt Anzeichen dafür, dass der Ausbau der Atomkraft stark gebremst wird. Die größte Bedrohung für das chinesische Atomprogramm kommt allerdings von den Wettbewerbern. Die Regierung steckt etwa das Fünffache der Ausgaben für Atomkraft in die Erneuerbaren.

Die Vorstellung, erst die dramatischen Ereignisse in Japan hätten einer wundersamen „Renaissance“ der Atomenergie einen Strich durch die Rechnung gemacht, ist abenteuerlich. Die Atomindustrie ist schon lange nicht einmal mehr in der Lage, die wegen Altersschwäche oder Unfällen ausgeschiedenen Anlagen zu ersetzen.

Weltweit war der Höchststand bereits 2002 mit 444 Reaktoren erreicht. Im März 2012 sind es noch 429 Anlagen. In der EU war es schon 1989 vorbei. Seither ist die Anzahl um 44 auf 133 Blöcke geschrumpft. Der zähe Abstieg wandelt sich immer mehr zum Absturz.

Alessio Montanari, 15, hat den Streit auf der taz-Facebook-Seite kommentiert

Ja, denn langsam werden sowohl die Politiker als auch die einzelnen Bürger darüber nachdenken, welche Folgen die Atomenergie für die Welt hat und dass man nicht ewig auf Kosten der Natur leben kann. Deutschland ist schon in der Energiewende, Japan selbst fängt auch schon an, erneuerbare Energien zu fördern. Und über kurz oder lang werden auch die Franzosen merken, dass das auf die Dauer nicht funktioniert, denn immerhin haben die jeden Winter riesige Probleme, Strom ins Land zu schaffen.

Nein

Christopher Weßelmann, 48, ist Chefredakteur der Zeitschrift „Atomwirtschaft“

Die Ereignisse in Japan vom 11. März 2011 bedeuten für die Nutzung der Kernenergie eine Zäsur. Die Zerstörung der Reaktoren in Fukushima Daiichi wirft die Frage auf, ob die Risiken der Kernenergie richtig eingeschätzt werden. Schon kurz nach dem Reaktorunfall zeigten heute bestätigte Analysen, dass erst die Verknüpfung des schweren Seebebens mit der Serie von Tsunamis zur Katastrophe führte.

Während die Anlagen und die Beschäftigten auf die Erdbebengefahr vorbereitet waren, war es der Schutz gegen Überflutungen mit einem unter anderem sechs Meter hohen Damm nicht. Nach dem Erdbeben waren die Reaktoren „sicher“; erst die bis zu 13 Meter hohen Flutwellen ließen die für die Sicherheit erforderliche Notstromversorgung zusammenbrechen. Tsunamis solcher Höhen sind für Japan nicht selten, sie treten alle 100 bis 1.000 Jahre auf. Fukushima Daiichi hätte bei Anwendung von international anerkannten Sicherheitsgrundsätzen entsprechend ausgelegt sein müssen, war es aber nicht. Die Katastrophe ist also nicht dem Restrisiko der Kernenergie zuzuschreiben, sondern administrativen Defiziten.

Fukushima hat die Welt der Kernenergie, aber nicht deren Rahmenbedingungen geändert und keinen ihrer Vorteile in Zweifel gezogen. Energie ist weiterhin ein überlebenswichtiges Gut. Noch immer hat deutlich mehr als die Hälfte der Menschheit keinen ausreichenden Zugang zu Energie, für über ein Drittel der Menschheit ist Energie eine tägliche Überlebensfrage. Dabei ist die Kernenergie kein Allheilmittel. Als Teil der Energieversorgung leistet sie aber einen wesentlichen Beitrag mit gewichtigen Gründen: Ressourcenschonung, Klimaschutz, kostengünstige Erzeugung, die den jeweiligen Wirtschaftsstandort sichert und subventionsfreie Arbeitsplätze schafft, sind jenseits der im deutschen Sprachraum erfolgten Ad-hoc-Neubewertung als deutlicher Vorteil anerkannt. 63 Neubauprojekte in 14 Staaten sowie 435 Kernkraftwerke in Betrieb mögen nicht beeindrucken. Aber der Trend zu Laufzeiten von mindestens sechzig Jahren hält an, in diesem Jahrzehnt wird der Anteil der Kernenergie an der Stromversorgung von etwa 13 Prozent bestehen bleiben.

Potenziale sind Zukunft

Nimmt man den Klimaschutz ernst, trägt die Kernenergie neben Wasserkraft, Windenergie, Biomasse und Solarenergie die Hälfte der wichtigen CO2-freien Stromerzeugung weltweit. Es sei auch auf die technischen Entwicklungspotenziale der Kernenergie für noch mehr Sicherheit, Ressourcenschonung und Umweltschutz verwiesen. Zukunftsoffene Gesellschaften müssen dabei vorurteilsfrei Forschung und Entwicklung ermöglichen und fördern – Potenziale sind Zukunft, ihre Verhinderung beruht auf Dogmen!

Jochen Stay, 46, ist Sprecher der Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt

In Deutschland gibt es bisher nur einen halben Ausstieg. Neun Reaktoren laufen weiter, die meisten bis 2022. Würde mir ein guter Freund erzählen, er habe beschlossen, in zehn Jahren mit dem Rauchen aufzuhören, ich würde ihn nicht ernst nehmen. Ob die neun Atomkraftwerke wirklich stillgelegt werden, hängt davon ab, was die Mehrheit im Bundestag in einem Jahrzehnt für richtig hält. Nur ein Jahr nach Fukushima singen die Wolfgang Clements dieser Welt in den Talkshows wieder das Hohelied der sicheren Atomkraft. Wirtschaftsminister Rösler und Umweltminister Röttgen versuchen derweil die Energiewende an die Wand zu fahren. Schon einmal, nach dem rot-grünen Atomkonsens aus dem Jahr 2000, dachten viele, der Ausstieg sei jetzt da und man müsse nichts mehr dafür tun. So entstand der gesellschaftliche Raum für die Laufzeitverlängerungskampagne der Stromkonzerne. Den gleichen Fehler sollte man nicht zweimal machen.