„Wir geben nicht auf“

TAZ-Serie zur Wahl Teil I: Im Land gibt es über eine Million Arbeitslose. Heinz Peter Fischer zählt dazu, aber ist keiner, der nur rumsitzt. Als Arbeitsloser hat er gelernt, sich von diesem Staat nichts mehr vormachen zu lassen. Er glaubt an den Druck von unten und entdeckt die Freuden des Widerstandes

„In der Ukraine haben die Menschen mit Demonstrationen sogar die Regierung gestürzt“„Als ich arbeitslos war, musste ich die bittere Erfahrung machen, dass ich fallen gelassen wurde“

Von SUSANNE GANNOTT

Stephanie Schwabe, 15, kann leider belegen, was aufwändige Studien nur mutmaßen: Kinder armer Eltern schneiden in der Schule schlechter ab. „Bei der letzten Mathearbeit bekam ich eine schlechtere Note, weil ich kein Marken-Geodreieck benutzt habe, sondern nur eins von Lidl“, erzählt die Schülerin. Der Lehrer hatte ihre Zeichnung mit seinem Geodreieck nachgemessen – und kam auf ein anderes Ergebnis. „Schmeiß dein Geodreieck weg und kauf dir eins von Herlitz“, hatte er gesagt. Die Eltern schrieben einen Brief. Sie monierten, dass der Lehrer den Markenwahn unterstützt. Der schenkte Stephanie schließlich ein anderes Geodreieck, die schlechte Note aber blieb.

Ihr Vater, Heinz Peter Fischer ist seit zwei Jahren arbeitslos und „auf ALG II“, wie er sagt. Er, seine Frau Sabine Fischer und die beiden Töchter leben von rund 1.400 Euro im Monat, davon 820 Euro für Miete. Hinzu kommen die 120 Euro, die Sabine Fischer von ihrem Minijob behalten darf. Die 40-Jährige arbeitet für 335 Euro 15 Stunden in der Woche als Kassiererin einer Bürohauskantine.

„Am Anfang war ich schon geschockt, als wir 2000 hier her zogen.“ Sabine Fischer meint Köln-Merheim, Hochhaussiedlung, Betonlandschaften. Sie hebt ihre leise Stimme, spricht gegen das Rauschen der nahen A4 an, das bis in den neunten Stock herauf dringt. Als ein Flugzeug über die Häuser donnert, unterbricht sie einen Moment. Alle 15 Minuten geht das so. „Aber eigentlich hört man das nur abends.“

Im Wohnzimmer beendet Heinz Peter Fischer ein Telefongespräch mit seinem Arbeitsberater. Es geht um Stellenangebote im Kölner Stadt-Anzeiger. Natürlich bemüht sich Fischer um jede erdenkliche Arbeit. Natürlich weiß er schon gar nicht mehr, wie viele Bewerbungen er geschrieben hat. „Für alles, was irgendwie passt: Vom Lagerarbeiter bei Lidl bis zum Geschäftsführer der Arbeitsagentur in Pulheim.“

HP, wie ihn alle nennen, die ihn kennen, machte erst eine Gärtnerlehre, dann Landwirtschaftsstudium. Nach dem Grundstudium wechselte er zur Sozialpädagogik. Das Diplom machte der gebürtige Kölner jedoch nicht mehr, „weil ich inzwischen beim Fernsehen gelandet war“ – als Schnittassistent, Bildassistent und Lichttechniker. Schließlich landete er bei einer Verleihfirma für Licht- und Bühnentechnik und war knapp zwei Jahre deren leitender Disponent. Jeden Winter hatte die Firma Auftragsflaute. „Und weil ich laut Arbeitsamt formal immer noch Hilfsarbeiter war, habe ich dann zum staatlich geprüften Informatiker umgeschult.“

Viel gebracht hat es nicht. Doch aufgeben wird HP nicht. Er ist kräftig gebaut, sein Bart ist akkurat rasiert. Selbstbewusst und in sich ruhend sitzt er auf dem Sofa. Dieser Mann hat eine Zukunft, mag man glauben. Hinter ihm, in der Vitrine des Wohnzimmerschranks, steht das Modell einer Suzuki LS 650, sein Motorrad, 18 Jahre alt. Die steht in der Garage. „Damit will ich bald wieder rumfahren.“ Und: „Ich hoffe schon, dass ich wieder einen Job finde.“

Natürlich reicht das ALG II hinten und vorne nicht. Fünfhundert Euro hat die Familie durch Hartz IV weniger, hat Fischer ausgerechnet. Kino, CDs oder Kneipe sind schon lange gestrichen. Zum Arzt gehen sie auch nicht mehr, sagt er, „obwohl meine Frau Asthma hat und ich Bluthochdruck“. Es klingt wütend, wenn er sagt, „dass sogar an unserer Gesundheit gespart wird“. Wenigstens hat er seinen Schrebergarten, wo Salat, Kartoffeln und Gemüse wachsen. „Das ist zwar teurer als bei Aldi“, auch das hat HP ausgerechnet, „aber dafür Bio.“ Gespart wird vor allem bei der Kleidung, sagt seine Frau. Sie kann sich schon nicht mehr daran erinnern, wann sie sich das letzte Mal was gekauft haben. Klamottengeld gibt es nur noch für die beiden Töchter, die Sabine Fischer mit in die Ehe gebracht hat. Als die 16-jährige Jacqueline vor kurzem Markenturnschuhe wollte, musste die Oma einspringen. „Zum Glück kümmert die sich ein bisschen“, meint Sabine Fischer leise.

HP Fischer hat in den letzten Jahren vor allem Eines gelernt: dass Arbeitslose sich wehren müssen. Von den Parteien erwartet er nichts mehr – egal wer nach der Landtagswahl regieren wird. „Die haben an uns kein Interesse.“ Wen er wählen wird? „Asozial“ sagt er oft. Die Roten und Grünen „zeigen mir, was sie für eine asoziale Politik machen“. Die FDP „will sie noch asozialer machen.“ Die CDU sowieso. „Die vier kann man alle in einen Sack stecken und trifft immer den Richtigen“, sagt HP Fischer. Heftig knetet er die Finger seiner rechten Hand.

Alternativen? HP Fischer holt weiter aus. „Die PDS läuft zwar herum und schreit ,Hartz IV muss weg‘, aber in den Ländern gehört sie zu den ersten, die das Gesetz umgesetzt hat.“ Und die WASG? „Das ist für mich die SPD der 70er Jahre.“ Fischer kennt die Kandidatin in seinem Wahlbezirk persönlich. „Die ist nur auf ein Pöstchen aus“, sagt er und zündet sich nach diesem Rundumschlag eine Zigarette an. Beim Ausatmen kommt es trotzig mit dem Rauch heraus: „Ich hab zwar keine Wahl, aber wählen gehe ich auf jeden Fall. Das ist ein Recht, das hart erkämpft wurde!“

HP Fischer will zwar keine SPD der 70er Jahre, aber auf den Druck der Straße vertraut er. Schließlich hätten die Montagsdemos die Regierung zu ein paar Nachbesserungen an Hartz IV gezwungen. „In Georgien, in der Ukraine haben die Menschen mit Demonstrationen sogar ihre Regierungen gestürzt.“ Vielleicht, sagt HP, gehen die Deutschen auch bald wieder auf die Straße. Dahin hat ihn erst die eigene Arbeitslosigkeit getrieben. Jetzt ist er politisch engagiert. „Während meiner Ausbildung bei der Stadt war ich zwar mal bei der ÖTV aktiv, als ich arbeitslos wurde, musste ich aber die bittere Erfahrung machen, dass ich fallen gelassen wurde.“ Ja, man muss sich wehren. Über den Ver.di-Erwerbslosenausschuss kam Fischer in Kontakt mit einem „bunten Haufen aus Trotzkisten, DKPlern und Studenten“. Anfang 2004 schloss man sich zur Wählervereinigung „Gemeinsam gegen Sozialraub“ (GgS) zusammen. Fischer schreibt inzwischen Artikel für das Bündnis, schreibt Leserbriefe an die Presse, betreut die Webseite, organisiert Infotische und arbeitet dem GgS-Ratsherrn zu, der seit der letzten Kommunalwahl im Stadtrat sitzt.

Durch die Leere der Arbeitslosigkeit hat Fischer auch zu sich selbst gefunden. Aus dem Mann, der zwei Ausbildungen und zwei abgebrochene Studiengänge hinter sich hat, der früher Gelegenheiten ergriff, ist einer geworden, der zupackt, der weiß, was zu tun ist. Jeden Bescheid der Arbeitsagentur kontrolliert er akribisch. Die Hartz-Bürokratie bombardiert er mit Widersprüchen. Fischer ist jetzt einer, der sich einmischt, seine Rechte kennt. Einer, der sich wehrt. Längst begleitet der stämmige Mann andere Arbeitslose zu ihren Terminen bei der Arbeitsagentur, erzählt er. Stolz fügt er hinzu, dass ihm sogar sein eigener Arbeitsberater inzwischen die komplizierten Fälle vorbeischickt.

Eigentlich ist Fischers Leben schön, er ist voll beschäftigt, hat Leidenschaften, nur „leider kein Einkommen“, und klingt nicht einmal so unzufrieden. Auch jetzt hat er keine Zeit mehr. Er muss zu einer Demo. Dort wird er berichten, dass der Kölner Stadtrat es ablehnt, Langzeitarbeitslosen ein vergünstigtes Jobsucherticket für den öffentlichen Nahverkehr zu bezahlen.

Auf dem Weg zur Straßenbahn kontrollieren Polizisten einige Jugendliche, die auf ihren Mopeds neben der Haltestelle hocken. „Ich habe ja gerade auch Ärger mit denen“, bekennt HP gut gelaunt. Vor kurzem bekam er eine Vorladung wegen einer unangemeldeten Demo. „Dabei habe ich nur mit ein paar Leuten von der Aktion Agenturschluss einen Spaziergang gemacht“, flötet Fischer. Dabei sind sie zufällig bei zwei Beschäftigungsträgern von Ein-Euro-Jobs vorbeigekommen. Die Polizei griff ihn aus der Gruppe heraus, weil sie ihn für den Verantwortlichen hielten. „Darf man heutzutage nicht einmal mehr spazieren gehen?“ erregt sich Fischer genüsslich. Für diese Geschichte kriegt er eine dreiviertel Stunde später, auf der Domplatte, heftigen Applaus. 40 Demonstranten sind gekommen, Fischer kennt sie alle. 10 Monate Montagsdemo, das schweißt zusammen. Seine kurze Rede macht Fischer sichtlich Spaß, er spricht souverän und flüssig. Die beiden Rhetorikseminare beim Arbeitgeberverband zeigen Wirkung. Er ist so im Stoff, dass er nicht einmal einen Stichwortzettel braucht. Als er das Jobsucherticket erwähnt, unterstreicht er seine Worte mit einem heftig drohenden Zeigefinger. „Und wir geben nicht auf! Eines Tages können wir alle Bahnfahren – und wenn wir dafür erst alle Schwarzfahren müssen.“

Fischer ist in seinem Element, das ist der Kampf gegen diesen „asozialen Staat“. Zeit für ein Schwätzchen bleibt dem Mann aus Merheim nicht. Es ist schön, keine Zeit zu haben. Kollege Micha hat auch schon die nächste Aufgabe für ihn: Für das Treffen des neu gegründeten „Erwerbslosenrats“ müssen Flugblätter verteilt werden. Fischer packt einen Stapel und macht sich auf. Er wird nicht aufgeben.