Zwei Ufer, ein China, kein Konsens

Die Regierung in Peking umgarnt mit James Soong jetzt schon Taiwans zweiten Oppositionsführer. Das erhöht den Druck auf den taiwanischen Präsidenten Chen Shui-bian, der von einem angeblichen früher erzielten Konsens nichts wissen will

Aus PEKING GEORG BLUME

Komplizierte Kompromisse in einfache politische Formeln zu gießen, steht in der Tradition ganzheitlichen Denkens der chinesischen Philosophie. Ob die neue, gestern von Chinas Partei- und Staatschef Hu Jintao ausgerufene Formel „Zwei Ufer, ein China“ diesem Anspruch gerecht wird? Jedenfalls wollten Hu und sein gestriger Gesprächspartner, der taiwanische Oppositionsführer James Soong, das alle Chinesen glauben machen. Sie nannten ihre Begegnung ein „historisches Ereignis von großer Bedeutung mit wichtigen Folgen“. Sie versprachen, dass Krieg zwischen den beiden Chinas „effektiv vermieden“ werden könne, solange Taiwan keine Schritte in Richtung Unabhängigkeit unternehme. Sie stellten ein Rahmenabkommen für den innerchinesischen Frieden in Aussicht und weitere Maßnahmern zur militärischen Vertrauensbildung.

Der KP-Chef empfing mit Soong, dem Vorsitzenden der Volkspartei (People First Party – PFP), bereits den zweiten taiwanischen Parteiführer in zwei Wochen. Vor Soong hatte der Führer der größeren Oppositionspartei, Kuomintang-Chef Lien Chan, Peking besucht. Mit Lien wie gestern mit Soong vereinbarte Hu ein gemeinsames Kommuniqué der jeweils zwei Parteien. Beide Dokumente gleichen sich weit gehend bezüglich ihrer Vorschläge für Entspannungsmaßnahmen wie etwa die Zulassung von Direktflügen und -invesitionen.

Bislang waren Gespräche über solche Themen zwischen China und Taiwan unmöglich, weil Peking die taiwanische Regierung nicht als gleichwertigen Verhandlungspartner anerkannte. Hier soll nun die „Zwei Ufer, ein China“-Formel helfen. Erstmals wird in dem Kommuniqué von KP und PFP der so genannte Konsens von 1992 näher definiert. 1992 hatten erstmals offizielle Gespräche von Regierungsvertretern beider Seiten stattgefunden, die aber bald ergebnislos abgebrochen wurden. Seither hatten die Unabhängigkeitsbefürworter in Taiwan – und in ihrer Folge der dort heute amtierende Präsident Chen Shui-bian – immer behauptet, ein Konsens von 1992 habe nie existiert.

Jetzt gibt ihnen das neue Kommuniqué insofern recht, als es feststellt, dass der Konsens damals nur mündlich vereinbart wurde. Weiter führt es aus, dass dahinter das Prinzip stehe: „Dem Gemeinsamen nachstreben, während man die Differenzen bewahrt.“ Vor allem die schriftliche Niederlegung dieses Prinzips kann nun als Geste Pekings gegenüber der Regierung Chens verstanden werden: Denn sonst redet die KP von ihren Wiedervereinigungszielen und nicht von der Bewahrung von Differenzen.

Ob das reicht? Chen befindet sich in einer zunehmend kniffligen Lage. Umfragen in Taiwan bescheinigen ihm rapide Popularitätsverluste, weil er die Reisen von Lien und Soong nach China zunächst scharf kritisierte, nur um sie später unter Druck Washingtons halbherzig gutzuheißen. Auf Chen kommt es jetzt an: Will er weiter nichts vom 92er Konsens wissen, könnte sich das neue innerchinesische Wohlgefühl um die beiden Parteigipfel in Peking bald in Luft auflösen und sich die KP erneut auf ihre alte Kriegsrhetorik besinnen.