„Komplexe Anforderungen an die Erziehung“

Ein Drittel aller Eltern hat massive Schwierigkeiten bei der Erziehung, traut sich aber bislang kaum, professionelle Hilfe zu suchen

taz: Herr Hurrelmann, gibt es heute mehr verhaltensauffällige Kinder als früher?

Klaus Hurrelmann: Wir haben eine Zunahme von Verhaltensstörungen, von emotionalen Störungen, von Sprach- und Aufmerksamkeitsstörungen, auch wenn wir in Rechnung stellen, dass wir heute genauere diagnostische Instrumente haben.

Kann man die Eltern für diese Störungen verantwortlich machen?

Ich persönlich schätze, dass etwa ein Drittel der Eltern heute mit den sehr komplexen Anforderungen an die Erziehung einfach nicht zurechtkommt. Wenn ich zum Beispiel in wirtschaftlichen Schwierigkeiten lebe, dann bin ich kein souveräner Vater oder keine souveräne Mutter mehr. Die Kinder aus diesem Drittel der Familien fallen besonders in Kindergärten und Schulen auf.

Sollten Elternkurse für alle Väter und Mütter Pflicht werden, selbst wenn sie keine Erziehungsprobleme haben?

Die Eltern, die sich von sich aus für Elternkurse interessieren, kommen eigentlich ganz gut mit der Situation zurecht. Das Drittel der Eltern, das eine besonders starke Unterstützung benötigen würde, besucht aber kaum solche Kurse. Die Scham, anderen gegenüber anzuerkennen, dass man mit seinen Kindern Schwierigkeiten hat, spielt eine sehr große Rolle. Im Moment wird sehr konstruktiv überlegt, wie man diese Eltern erreichen kann. Eine Möglichkeit wäre die Beteiligung aller Eltern, vermittelt über öffentliche Erziehungsinstitutionen wie die Schule.

Erziehungskurse setzen unterschiedliche methodische Schwerpunkte. Sind feste Regeln oder demokratisches Diskussionsverhalten in der Familie wichtiger?

Triple P zum Beispiel ist als ein sehr kontrolliertes Programm für verhaltensgestörte und aggressive Kinder entwickelt worden. Hier sind feste, klare Konditionierungen das Ziel. Das Kind soll in eine disziplinierte Struktur gebracht werden. Das kann man bei „Super Nanny“ ganz deutlich besichtigen – hier wird diese Philosophie zugrunde gelegt. Das ist ein in sich sinnvoller Ansatz, aber man geht das Risiko ein, dass die Beziehung zum Kind und die Qualität der Kommunikation nicht mit gepflegt werden. Andere Konzepte, etwa das vom Kinderschutzbund, das STEP-Programm oder noch deutlicher das Gordon-Familientraining legen den Akzent auf die Beziehungsseite. Das Kind soll spüren, das es als Person ernst genommen wird. Meine Prognose ist, dass sich die scharfe Unterscheidung zwischen dem einen und dem anderen Ansatz nicht sehr lange halten wird. Wir bräuchten jetzt eine Stelle, die Eltern beraten kann, welcher der Ansätze bei ihrem jeweiligen Problem vielleicht der richtige zum Einstieg ist.

Ist antiautoritäre Erziehung gescheitert?

Die Forschung zeigt, dass eine antiautoritäre Erziehung für das Kind keine gute Basis ist. Das Kind wird unsicher, es kann genauso aggressiv werden wie durch den übertriebenen autoritären Stil. Eltern sollten die Bedürfnisse des Kindes angemessen berücksichtigen und zugleich die nun einmal vorhandene Autorität in einer guten Dosierung in diese Beziehung einbringen.

INTERVIEW: JUTTA BLUME