: Am Anfang war das Wetter
LICHT Der Literatur- und Sprachwissenschaftler Manfred Geier möchte die Aktualität der Aufklärung als europäisches Projekt beweisen
Nimmt man den Untertitel von „Aufklärung. Das europäische Projekt“ ernst, ahnt man schon Böses. Hätte der Autor Manfred Geier sich bloß auf die von ihm im Vorwort angegebene Periode von 1689 bis 1789 beschränkt, könnte man sich fragen, ob das überhaupt geht – etwas über Aufklärung schreiben ohne Bacon und Spinoza, ohne Lichtenberg und Heine, nur weil sie aus der selbst gewählten Zeit fallen.
Aber Manfred Geier will noch mehr. Im Zentrum des Buches steht ein Kapitel, bei dem man sich die Augen reibt: „Sind die Europäer Kantianer und wenn ja, warum sie dafür gute Gründe haben“ – es geht um nicht weniger als um „Kant und den Irakkrieg“ und endet mit Karl Popper und Hannah Arendt „auf den Spuren Kants“. Mit diesem Zickzackkurs durch die Geistesgeschichte möchte der Autor die Frage beantworten: „Sind die Europäer Kantianer?“
Ehrlich gesagt: Die Europäer interessieren sich nicht für Kant, eher für Arbeitslosigkeit und Altersversorgung. Krieg und Frieden hängen auch nicht davon ab, was sie denken oder wollen, sondern von den politischen Entscheidungsträgern. Weder Schröder noch Chirac haben sich an Kant orientiert, sondern weltbekannte Philosophen wie Habermas und Derrida haben den Namen Kants ins Spiel gebracht, um ihren politischen Vorstellungen philosophische Autorität zu verleihen.
Mit der Gegenüberstellung USA–Europa sitzt man nur rechten amerikanischen Ideologen auf, die den Unilateralismus des kleinen Bush aus einem angeblich kriegerischen Wesen Amerikas erklären. Auch George W. Bush erklärte den war on terror nicht nach einer längeren Leo-Strauss-Lektüre; sondern der scharfsinnige Strauss-Schüler Robert Kagan sprang dem Präsidenten legitimatorisch zur Seite, als er die Machtpolitik der Bush-Administration als uramerikanisch verklärte. Geiers Irakkriegsexkurs pseudoaktualisiert und ist daher schon überholt.
„Aufklärung. Das europäische Projekt“ will keine trockene Philosophiegeschichte sein, sondern möchte Aufklärung locker und flockig unter das noch lesende Publikum bringen; deswegen stolpert der Autor über die Fallstricke des Biografismus. Er weiß nicht nur, was Locke, Shaftesbury, Voltaire und Diderot geschrieben, sondern auch, was sie wann und wo gefühlt haben.
Er kennt auch immer das Wetter, wenn sich „eine neue Phase in der Geistesgeschichte der Aufklärung“ abzeichnet. Als Voltaire am 5. Mai 1726 „englischen Boden betritt, ist der Himmel wolkenlos wie an den schönsten Tagen in Südfrankreich“. Und an „einem Schlüsseldatum in der Geistesgeschichte der Moderne“ im Oktober 1749 ist es sogar auf dem Weg nach Vincennes „ein ungewöhnlich heißer Tag“, als Rousseau auf dem Weg zu Diderot im Knast mal eine Pause macht und beginnt, im Mercure de France zu blättern.
Die hochtrabende Phrase wird zum intellektuellen Salto Mortale, wenn „der kleine Mosche aus Dessau“ das Rosenthaler Tor passiert (es ist „ein kalter Oktobertag“ 1743, wie der Autor weiß): „Er wird als Philosoph in der modernen Welt der Aufklärung zu Hause sein, zugleich jedoch sein jüdisches Anderssein nicht abschütteln, das er wie seinen verwachsenen Buckel mit sich trägt.“ Blackout im Lektorat? Die Phrase wird zur intellektuellen Selbstschussanlage.
Wie Manfred Geier es macht, geht es nicht. Durch eine pseudoaktuelle Brille geblickt, entgeht ihm das Wesen der von ihm selbst gewählten Schlüsselperiode von 1689 bis 1789. Es ist die Zeit einer vornationalen Welt, der großen Reiche, der europäischen Expansion in Übersee. Deutschland gab es damals überhaupt nicht. Und Europa auch nicht.
Die alte Aufklärung war ein kosmopolitisches Projekt, so wie Vater und Sohn Forster als Teil der englischen Marine unter Captain Cooks Kommando in die Südsee fuhren. Und die Vereinigten Staaten, ihre Verfassung und ihre Gesellschaft, sind ohne die Aufklärung im 18. Jahrhundert gar nicht zu denken.
Aufklärung ist kein europäisches, sondern vielmehr ein kosmopolitisches Projekt. Kosmopolitismus aber war vor drei Jahrhunderten eine abstrakte Vorstellung weniger, gebildeter Menschen; heute kann konkreter Kosmopolitismus ein way of life der Zukunft werden.
DETLEV CLAUSSEN
■ Manfred Geier: „Aufklärung. Das europäische Projekt“. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012, 416 Seiten, 24,95 Euro
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